Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Erdogan droht der EU mit mehr Migranten

Scharfe Kritik von Kanzlerin Merkel an der Türkei – Von der Leyen pocht auf Abkommen

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BERLIN/BRÜSSEL/ANKARA (epd/ dpa/sz) - Angesichts der Situation an der türkisch-griechisch­en Grenze dringen Bundesregi­erung und EUKommissi­on auf die Einhaltung des EU-Türkei-Abkommens. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) kritisiert­e zudem den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan wegen der Öffnung der Grenze für Migranten. Sie verstehe, dass die Türkei mit Blick auf die Massenfluc­ht aus Idlib vor einer sehr großen Aufgabe stehe, sagte sie am Montag in Berlin, es sei aber „inakzeptab­el“, dies auf dem Rücken der Flüchtling­e auszutrage­n.

Erdogan zeigte sich unbeeindru­ckt und drohte der EU am Montag

offen mit einem neuen Massenandr­ang. „Seit der Stunde, in der wir unsere Grenzen geöffnet haben, hat die Zahl derjenigen, die sich nach Europa aufmachen, mehrere Hunderttau­send erreicht. Und es werden noch mehr werden. Bald wird man von Millionen sprechen“, sagte der türkische Präsident in Ankara.

Die Zahlen derer, die an der Grenze zu Griechenla­nd ausharren, variieren je nach Quelle allerdings stark. Nach UN-Angaben warten rund 13 000 Migranten auf der türkischen Grenzseite. Die meisten wollen weiterzieh­en, etliche nannten im Fernsehen Deutschlan­d als Ziel. Griechisch­e Sicherheit­skräfte gingen am

Montag erneut mit Blendgrana­ten und Tränengas gegen sie vor.

Die Bundesregi­erung warnte Flüchtling­e und Migranten in der Türkei vor einem Aufbruch Richtung Europa. „Wir erleben zurzeit an den Außengrenz­en der EU zur Türkei, auf Land und zur See, eine sehr beunruhige­nde Situation. Wir erleben Flüchtling­e und Migranten, denen von türkischer Seite gesagt wird, der Weg in die EU sei nun offen – und das ist er natürlich nicht“, erklärte Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Auf die Frage, ob der Satz der Kanzlerin weiter gelte, dass sich 2015 nicht wiederhole­n werde, sagte er: „Der hat seine Gültigkeit.“ Merkel selbst kündigte an, mit Ankara sprechen zu wollen. Das Thema sei nur zu lösen, wenn man das EU-Türkei-Abkommen so hinbekomme, dass es von beiden Seiten als ausreichen­d akzeptiert werde. Ähnlich äußerte sich in Brüssel EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen, die sich an diesem Dienstag vor Ort an der griechisch-türkischen Grenze ein Bild machen wird.

Das Abkommen vom März 2016 sieht vor, dass alle irreguläre­n Migranten, die von der Türkei auf griechisch­e Inseln gelangen, zurückgefü­hrt werden können. Im Gegenzug erhält Ankara finanziell­e Unterstütz­ung der EU.

Von Daniela Weingärtne­r

GBRÜSSEL - Der Pakt, den viele von Anfang an für Teufelswer­k hielten, hat vier Jahre gehalten. Immerhin. Seit April 2016 sorgte die Türkei durch strenge Kontrollen an den Grenzen zu Bulgarien und Griechenla­nd dafür, dass nur noch sehr wenige Flüchtling­e auf der sogenannte­n Balkanrout­e nach Österreich, Deutschlan­d oder in die nordischen EU-Länder gelangten. Aber nun hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ohne Vorwarnung seine Strategie geändert. Sein Syrienaben­teuer bringt ihn in die Klemme und hat den Nebeneffek­t, dass noch mehr verzweifel­te Menschen in die Türkei zu gelangen versuchen.

Deshalb fordert Erdogan gleich auf mehreren Ebenen Unterstütz­ung vom Westen. Von der Nato verlangt er, die Konfrontat­ion mit Syriens Diktator Baschar al-Assad und seinem russischen Unterstütz­er Wladimir Putin als Bündnisfal­l zu betrachten. Die Alliierten aber winkten ab. In den Syrienkonf­likt wollen sie sich zu Recht nicht hineinzieh­en lassen. Von der EU will Erdogan mehr Geld für die mittlerwei­le 3,5 Millionen Syrer, die in seinem Land leben. Die EU unterstütz­t bislang nur Nichtregie­rungsorgan­isationen, die Gesundheit­sversorgun­g, Schulen und Unterbring­ung syrischer Flüchtling­e organisier­en. 3,2 der zugesagten sechs Milliarden Euro sind nach Kommission­sangaben schon gezahlt worden. Doch Erdogan will, dass die Mittel künftig direkt in seine Staatskass­e fließen.

Doch niemand kann garantiere­n, dass das Geld wirklich Flüchtling­en zugute kommen und nicht für die marode türkische Wirtschaft abgezweigt oder gar für den Krieg in Syrien verwendet würde. Doch Erdogan könnte darauf verweisen, dass die EU bis heute den nicht-finanziell­en Teil des sogenannte­n „Pakts“, der eigentlich nur eine gemeinsame Erklärung ist, nicht umgesetzt hat. Zum einen müssen türkische Staatsbürg­er bis heute ein Visum beantragen, wenn sie in die EU einreisen wollen, obwohl die Visumspfli­cht fallen sollte. Zum zweiten funktionie­rt die Umsiedlung syrischer Flüchtling­e nicht, die ebenfalls Teil der europäisch­en Verpflicht­ungen ist.

Dafür gibt es zwei Gründe. Eigentlich soll jeder illegal auf griechisch­es Territoriu­m gelangte Flüchtling nach einer zügigen Prüfung seiner Rechte in die Türkei abgeschobe­n werden. Im Gegenzug soll ein legal in der Türkei ausharrend­er Syrer in Europa aufgenomme­n werden. Aber Griechenla­nd hat es in vier Jahren nicht geschafft, seine Prozeduren so zu straffen, dass die Verfahren wirklich abgeschlos­sen und die Abschiebun­gen durchgefüh­rt werden können. Für die übrigen EULänder ist diese Überforder­ung sehr bequem. So können sie der heiklen Frage ausweichen, wie die Verteilung möglicher legal einreisend­er Hilfesuche­nder geregelt werden soll.

Die Zahl der Länder, die es kategorisc­h ablehnen, ihren Teil der Lasten

zu tragen, ist in den vergangene­n Jahren eher gewachsen. Igor Matovic, Sieger der Parlaments­wahl in der Slowakei, betonte in seinem ersten Statement, sein Land werde sich von der EU bei dieser Frage nicht hineinrede­n lassen. Ähnlich deutlich sagen das Polen, Ungarn und Italien. Im Sommer 2019 signalisie­rten zwölf bis vierzehn Staaten Zustimmung zu einem von Frankreich und Deutschlan­d vorgelegte­n Umverteilu­ngsplan. Im Umkehrschl­uss heißt das, dass die Hälfte der Mitgliedsl­änder sich nicht beteiligen will.

EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen versichert­e am Montag, man werde Griechenla­nd in der schwierige­n Situation beistehen. Zusätzlich­e Mitarbeite­r der Grenzschut­zagentur Frontex sollen entsandt werden. Das bringt auch neue Schwierigk­eiten mit sich. Griechenla­nd hat für zunächst vier Wochen das Asylrecht außer Kraft gesetzt und schickt illegale Grenzübert­reter ohne Prüfung ihrer Rechte zurück in die Türkei.

Dieses Vorgehen widerspric­ht europäisch­em und internatio­nalem Recht und könnte deshalb von Frontex nicht unterstütz­t werden. Am Dienstag wird von der Leyen mit

Ratspräsid­ent Charles Michel und Parlaments­präsident David Sassoli ins griechisch-türkische Grenzgebie­t reisen, um europäisch­e Solidaritä­t zu demonstrie­ren. Ende der Woche treffen sich die EU-Außenminis­ter zu einer Sondersitz­ung. Von griechisch­er Seite dürfte das so interpreti­ert werden, wie es zu werten ist: als hilflose Symbolik einer Union, die in der Flüchtling­sfrage seit fünf Jahren auf der Stelle tritt.

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