Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Rechtsmediziner startet in Ulm
Sebastian Kunz ist der neue Institutsdirektor der Rechtsmedizin an der Uniklinik Ulm – Er sieht die Obduktion als Dienst an der Gesellschaft
ULM (dre) - Das Institut für Rechtsmedizin an der Uniklinik Ulm hat einen neuen Leiter. Sebastian Kunz wird dort ab April seine Tätigkeit aufnehmen. Der 40-Jährige will die Zahl der Obduktionen erhöhen. „Ich denke, dass wir das der Gesellschaft schuldig sind“, sagt Kunz. Es gehe nicht nur darum, Gewaltverbrechen aufzudecken, auch Familienangehörige hätten ein Anrecht auf Gewissheit über Todesursachen. Deutschlandweit liegt die Obduktionsrate bei unter fünf Prozent.
- Acht Tage lang hatten die isländische Polizei und mehr als 700 Freiwillige nach Birna Brjánsdóttir gesucht. Als die Leiche der 20-Jährigen im Januar 2017 dann gefunden wurde, angespült am Strand, stand die Insel mit ihren rund 330 000 Einwohnern unter Schock. „Hier in Ulm würde man sagen: Mädle, Du kannst doch nicht zu einem Fremden ins Auto steigen“, sagt Prof. Dr. Sebastian Kunz. „Auf Island kennt jeder jeden, da ist es ganz normal, dass man sich gegenseitig im Auto mitnimmt“, sagt der 40-Jährige. Er sitzt in der Cafeteria der Uniklinik Ulm. Dort wird er ab April als Institutsdirektor und Lehrstuhlinhaber der Rechtsmedizin einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung von Gewaltverbrechen im Südwesten leisten.
Kunz hat die Tote auf Island obduziert. Als die junge Frau von einem 29-jährigen Besatzungsmitglied eines grönländischen Fischkutters erst vergewaltigt, gewürgt und ins Meer geworfen wurde, war Kunz Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Reykjavik. Der brutale Fall hat sich ihm eingeprägt, nicht nur, weil er wochenlang in den internationalen Schlagzeilen war. „Man läuft die Straße entlang, in der sie zuletzt gesehen wurde, hat da vielleicht selbst mal das ein oder andere Bier getrunken“, beschreibt Kunz die bleibenden Eindrücke vor Ort. Auch wenn sich in den Buchhandlungen die Island-Krimis stapeln – mit durchschnittlich 1,8 Tötungsdelikten im Jahr ist die Insel im Grunde ein friedlicher Ort. Weil die Fahnder somit nicht viel Routine haben, sei er wesentlich stärker in die Ermittlungen eingebunden gewesen, als es hierzulande der Fall gewesen wäre. So analysierte er die Blutspuren in dem Auto, in das die junge Frau gestiegen war.
Nach vier Jahren in der isländischen Hauptstadt Reykjavik, in denen Kunz die Rechtsmedizin des Landes aufgebaut hat, kehrt der Münchner nun mit einer Mission nach Deutschland zurück. Auch in Ulm, wo er ein Team von rund 30 Menschen leiten wird, sei das Potenzial noch nicht ausgeschöpft. „Wenn man sich die Obduktionszahlen der rechtsmedizinischen Institute in Deutschland ansieht, dann bildet Ulm derzeit so ziemlich das Schlusslicht“, sagt der 40-Jährige, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in die Münsterstadt gezogen ist. Es seien 150 bis 200 Obduktionen im Jahr. Vergleiche man die Obduktionszahlen von Ulm mit den umliegenden Instituten wie beispielsweise Würzburg, Freiburg oder München, dann werde dort teilweise deutlich mehr als das doppelte obduziert. „Ulm ist eine schöne ruhige Stadt mit relativ wenig Kriminalität. Aber dennoch passiert auch hier so Einiges. Und Rechtsmediziner haben ja nicht nur mit Mord und Totschlag zu tun.“
Seit Mitte Januar konnten dieses Jahr in Ulm keine Obduktionen mehr stattfinden, man hätte aus Kapazitätsgründen auf externe Rechtsmediziner ausweichen müsssen. Kunz folgt in Ulm auf Prof. Dr. Erich Miltner, der eigentlich schon vor etwa einem halben Jahr in Ruhestand gehen sollte, die Leitung aber weiter innehatte, bis ein Nachfolger gefunden war.
Generell ist die Obduktionsrate in Deutschland niedrig. Während auf Island rund 17 Prozent der Toten obduziert werden, sind es in Deutschland unter fünf. Fragt man Kunz, sollte die Zahl höher liegen. Wenn er über seinen Job spricht, tut er das nüchtern und mit klaren Worten, ein eloquenter Gesprächspartner, der Selbstbewusstsein und Lebensfreude ausstrahlt. Der Mann mit dem kahlrasierten Schädel ist überzeugt davon, dass Obduktionen notwendige Gewissheit schaffen. „Ich denke, dass wir das der Gesellschaft schuldig sind“, sagt Kunz. Es gehe nicht nur um die Aufklärung von Morden, sondern auch um Zweifelsfreiheit, etwa wenn als Todesursache eine Überdosis Drogen im Raum stehe: „Für Angehörige macht es natürlich einen enormen Unterschied, ob sich der Sohn oder die Tochter suizidiert hat oder ob es ein Unfall war.“Oder ob der Verkehrsunfall durch einen Herzinfarkt ausgelöst wurde oder doch durch Alkohol am Steuer.
Dass der Rechtsmediziner direkt von Angehörigen beauftragt wird, sei aber eher selten. In der Regel kommt der Auftrag von der Staatsanwaltschaft oder Polizei. Dann geht es darum, zu klären, ob bei einem Toten Fremdeinwirkung vorliegt. Sobald es Anhaltspunkte für einen nicht-natürlichen Tod gibt, muss obduziert werden. „Ansonsten bleibt die Todesursache immer ungeklärt und alles andere ist dann reine Mutmaßung.“Auch wenn man jemanden mit der Nadel im Arm findet – ohne toxikologische Untersuchung geht es nicht. Klar trennen muss man übrigens zwischen dem Pathologen und dem Rechtsmediziner: „Der Pathologe arbeitet mit Fokus auf Erkrankungen. Er diagnostiziert beispielsweise Tumoren, analysiert den Tumorgrad eines befallenen Organs oder prüft den Krankheitsverlauf bei einem verstorbenen Patienten.“
Der Sektionssaal wirkt mit seiner zweckmäßigen Einrichtung – gekachelter Boden, matte Stahloberflächen – kühl und nüchtern. In der Mitte steht der Sektionstisch, höhenverstellbar, löchrige Oberfläche. Hier wird Kunz künftig Leichen sezieren, hier werden die Toten zu ihm sprechen. Schritt für Schritt wird er ihnen bei seiner Arbeit Geheimnisse entlocken, die sie sonst möglicherweise mit ins Grab genommen hätten. So wie in einem Fall in München, bei dem eine Blutanalyse auf die Spur eines Täters führte, der zwei Mädchen getötet hatte. Das kriminalistische Gespür, ein Blick für entscheidende Details, ist wichtig für den Beruf des Rechtsmediziners.
Wird eine unidentifizierte Leiche gefunden, wird der Körper zunächst vermessen und fotografiert. Auch die Kleidung wird begutachtet, Marke, Größe, alles könnte Hinweise darauf geben, wer die Person ist. Steht der Verdacht auf Fremdeinwirkung im Raum, müsse man dem in Anwesenheit der Spurensicherung nachgehen. Wenn die Person entkleidet ist, werden Übersichtsaufnahmen gemacht und Gewicht und Größe ermittelt. „Dann führt man die äußere Besichtigung des Leichnams durch“, erläutert Kunz. Jeder blaue Fleck wird dokumentiert, jedes Muttermal, jede Narbe, Farbe und Länge der Haare. Dann beginnt das Sezieren. „Man öffnet alle drei Körperhöhlen – Kopf, Bauch und Brust.“Die Organe werden entnommen, gewogen und auf spezielle Weise aufgeschnitten. Auch Blut und Urin werden asserviert, also sichergestellt. So kann untersucht werden, ob etwa Drogen oder Medikamente im Körper waren. Zu diesem Zweck können auch Haarproben genommen werden. Je nach Fall werden Abstriche gemacht, etwa wenn der Verdacht eines Sexualdelikts besteht. „Es gibt eine standardmäßige Routine, aber je nach Alter und Fragestellung können unterschiedliche Aspekte wichtig sein.“So werde ein Kind anders obduziert als jemand, der sich erhängt hat.
Wie ist das, wenn man jeden Tag dem Tod begegnet? Wird die Arbeit mit Leichen irgendwann zur Routine, kostet sie von Mal zu Mal weniger Überwindung? „Genau so ist es nicht. Ich denke, entweder kann man das, oder man kann es nicht“, sagt Kunz, ohne lange überlegen zu müssen. Überwindung bedeute immer, dass einen etwas stört und dass man dieses Etwas überwinden muss. Natürlich gebe es Fälle, die unangenehmer seien als andere: „Bei einer Wasserleiche, die eine Zeit lang bei warmen Temperaturen draußen war, macht kein Rechtsmediziner ein freudestrahlendes Gesicht.“Das Schlimmste aber sei – auch nach den 4000 Obduktionen, die er bereits hinter sich hat – frischer Mageninhalt, den man etwa auf Tabletten oder Alkohol überprüfen müsse. Wie nahe ihm die Arbeit geht, hänge auch von der eigenen Lebenssituation ab. „Bis vor Kurzem haben mir Kinderobduktionen noch nichts ausgemacht. Aber seitdem ich selbst Kinder habe, ist da eine andere Empathie“, sagt der Vater einer Zwei- und einer Dreijährigen. Höchsten Respekt habe er vor Kinderonkologen. „Wenn ich den ganzen Tag mit krebskranken Kindern zu tun hätte – das würde mich komplett fertigmachen.“Je weiter weg vom eigenen Leben, desto größer hingegen die berufliche Distanz. „Ein Mordfall hat mit meinem Leben nichts zu tun.“Und wenn man mal nicht abschalten könne, neige der Rechtsmediziner an sich zu morbidem Humor. „Das ist ein Verarbeitungsmechanismus. Lieber einen Witz machen als die Dinge in sich hereinfressen.“Viele gängige Klischees träfen allerdings nicht zu. „Das Bild von der alkoholabhängigen und depressiven Kellerassel – das seh ich nicht so“, sagt Kunz. Im Gegenteil. „Wir sind sehr positive, lebensfrohe Menschen – eben weil wir genau wissen, dass es jederzeit vorbei sein kann, ohne dass man es vorhersehen kann.“Dass das Bild des Rechtsmediziners in der Öffentlichkeit von TV-Figuren wie der des Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) aus dem Münster-„Tatort“geprägt ist, findet Kunz nicht schlimm. Auch wenn manches vereinfacht dargestellt wird.
Dass er als Rechtsmediziner arbeiten will, war früh klar. „Mehr oder weniger im ersten Semester“, sagt Kunz, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Humanmedizin studiert hat. Bei einer öffentlichen Obduktion im Hörsaal habe er festgestellt, dass er den Magen dafür habe. Durch ein Praktikum knüpfte er Kontakte nach Schweden, wo er nach dem Staatsexamen eine Stelle als Assistenzarzt im Institut für Rechtsmedizin in Stockholm antrat. Der berufliche Weg führte ihn zunächst wieder nach München, wo er den Facharzt in Rechtsmedizin machte. Dann ging er für ein paar Jahre nach Salzburg und 2016 nach Island. Die Rückkehr hat auch familiäre Gründe. „Ich bin dem Süden sehr verbunden“, sagt Kunz. Die Großeltern wohnten in Schrozberg, und wenn sie oder Kunz’ Eltern nicht die jeweilige komplette Strecke fahren wollten, war in Ulm „Übergabe“, wie er sich erinnert. Island sei kein optimaler Ort, um Kinder großzuziehen: „Es ist kalt und stürmisch. 18 Grad sind im Sommer das höchste der Gefühle, und das dann vielleicht eine Stunde am Tag.“Im Winter sei es komplett dunkel. „Ich bin niemand, der zu Depressionen neigt, aber zwischendurch geht einem das schon auf den Keks.“Als die Stelle in Ulm frei wurde, ergriff Kunz die Chance.
Dass Kunz jemand ist, der dem Leben nicht beim Verstreichen zusieht, merkt man beim Blick auf seine Vita. Er hat unzählige Publikationen verfasst und ist in der Forschung sehr aktiv. Da ist zum Beispiel die Blutspurenanalyse. Blutspritzer am Tatort können in Kombination mit den Erkenntnissen der Obduktion bestätigen – oder auch widerlegen –, ob der Hergang einer Gewalttat sich tatsächlich so zugetragen hat wie vom Tatverdächtigen geschildert. „Wenn das Blut Blasen bildet, deutet das darauf hin, dass es ausgehustet wurde. So könnte man zum Beispiel analysieren, dass das Opfer zu diesem Zeitpunkt schon verletzt war, das heißt, zwar schon Blut in der Lunge hatte, aber noch gelebt hat.“An den Blutspuren lasse sich auch ablesen, ob der Täter sein Opfer beispielsweise gejagt habe oder ob die Tat an einem einzigen Ort verübt worden sei. Es sei also durchaus sinnvoll, dass der Rechtsmediziner auch bei der Blutspurenanalyse am Tatort zugegen ist. „In den USA macht das zum Beispiel hauptsächlich die Polizei, hierzulande ist der Rechtsmediziner dabei.“
Ein Faible hat Kunz für das geschriebene Wort. So arbeitet er mit dem deutschen Produzenten Michel Guillaume („Soko München“) an einer Serie namens „Quid pro Quo“(lateinisch für „dies für das“). Kunz beschreibt es als schwarzhumorige Mischung. Außergewöhnlich findet er selbst diesen Hang zur Kreativität nicht. Der Beruf bringe einen immer wieder in skurrile Situationen. Bruchstücke davon könnten in diese Geschichten einfließen. „Wir Rechtsmediziner haben einfach das Material dafür“, sagt Kunz. Er erinnert sich an den Fall eines Gewalttäters, der die Blutspuren einer früheren Tat an der Wand ließ – quasi als Drohung für seine Partnerin.
Sebastian Kunz ist überzeugt vom Wert seines Tuns
„Ansonsten bleibt die Todesursache immer ungeklärt und alles andere ist dann reine Mutmaßung.“