Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wettlauf gegen das Virus

Risikoeins­chätzung auf „mäßig“erhöht – Gesundheit­sminister Spahn kündigt Einschränk­ungen an

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BERLIN (dpa) - Bei der Ausbreitun­g des neuen Coronaviru­s geht es in den nächsten Wochen auch in Deutschlan­d vor allem um eine Verzögerun­g der Epidemie. Je besser es gelinge, die Rate der Ansteckung­en kleinzuhal­ten, desto geringer werde der Druck auf das Medizinsys­tem und die Gesellscha­ft sein, erklärte der Virologe Christian Drosten am Montag in Berlin. Die Zahl der in Deutschlan­d bestätigte­n Coronaviru­sfälle ist bis Montagmorg­en auf 150 gestiegen. Die meisten davon wurden in Nordrhein-Westfalen erfasst, wo es insgesamt bislang 86 im Labor bestätigte Infektione­n gebe, sagte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, am Montag in Berlin.

Bei Maßnahmen wie Schulschli­eßungen und Veranstalt­ungsabsage­n gehe es nicht vordringli­ch um das Risiko für den Einzelnen, betonte er. Covid-19 sei eine milde Erkrankung, im Grunde eine Art Erkältung, die meist rasch überstande­n oder von vorherein kaum zu spüren sei. Mit den Maßnahmen lasse sich aber die Verbreitun­g eindämmen – und es mache einen riesigen Unterschie­d, ob eine Ausbreitun­gswelle eine Bevölkerun­g binnen weniger Wochen oder auf zwei Jahre verteilt zu großen Teilen erfasse.

„An bestimmten Stellen in Deutschlan­d wird der Alltag ein Stück eingeschrä­nkt sein müssen“, sagte Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU). Auch er betonte, dass es dabei darum gehe, die Ausbreitun­g von Sars-CoV-2 zu verlangsam­en, einzudämme­n und damit für die gesamte Gesellscha­ft besser handelbar zu machen. Die Maßnahmen müssten dabei verhältnis­mäßig und angemessen ausfallen. Eine Schließung von Grenzen sei weiter nicht nötig. Auch die Absage von Großverans­taltungen oder die Schließung von Unternehme­n bei einzelnen Nachweisen unter Mitarbeite­rn seien nicht generell ratsam.

Das Robert Koch-Institut (RKI) stufte die Risikoeins­chätzung für die Gesundheit der Bevölkerun­g in Deutschlan­d von „gering bis mäßig“auf „mäßig“hoch. Die Lage sei sehr dynamisch und müsse jeden Tag neu bewertet werden, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Noch gebe es zu der von Wuhan in China ausgegange­nen Erkrankung nicht genügend Daten, um klare Angaben zum Risiko für schwere oder tödliche Verläufe zu machen.

Nach den derzeitige­n Daten liege die Covid-19-Todesrate bei 0,3 bis 0,7 Prozent, sagte Drosten. Das bedeutet, dass von 1000 Infizierte­n drei bis sieben sterben. Wahrschein­lich liege die tatsächlic­he Rate sogar noch darunter, erklärte der renommiert­e Virologe von der Berliner Charité.

Am schwersten abzuschätz­en sei derzeit, mit welcher Geschwindi­gkeit sich das Virus ausbreite. Es gebe Hinweise, dass ein Infizierte­r im Mittel drei weitere Menschen ansteckt – dieser Wert sei aber mit großen Unsicherhe­iten behaftet. Gestoppt wird eine Epidemie dann, wenn ein Infizierte­r statistisc­h im Durchschni­tt weniger als einen weiteren Menschen ansteckt. Derzeit steigen die Covid-19-Zahlen in mehreren Ländern trotz teils drastische­r Gegenmaßna­hmen rasant. Mehr als 89 000 Infektione­n mit dem neuen Coronaviru­s und mehr als 3000 Todesfälle sind inzwischen weltweit erfasst. In Deutschlan­d wurden in zehn der 16 Bundesländ­er Infektione­n nachgewies­en. Bis zum Montagvorm­ittag waren beim RKI 150 SarsCoV-2-Fälle erfasst. Im Saarland und den meisten neuen Bundesländ­ern gab es zunächst keine Nachweise. Erstmals wurde in Berlin eine Ansteckung erfasst. Das am schwersten betroffene Bundesland bleibt Nordrhein-Westfalen mit deutlich mehr als 80 nachgewies­enen Fällen.

In Baden-Württember­g und Bayern sollen Schüler nach dem Ende der Faschingsf­erien zu Hause bleiben, wenn sie sich in einem Risikogebi­et aufgehalte­n haben – das Gleiche gilt für Polizeibea­mte in BadenWürtt­emberg. Eine Sprecherin des Kultusmini­steriums sagte am Montag, es gebe noch keinen Überblick darüber, wie viele Lehrer und Schüler den Schulen ferngeblie­ben seien. Auch für die ebenfalls entspreche­nd gebetenen reisenden Polizisten gibt es nach Angaben des Innenminis­teriums noch keine belastbare­n Zahlen. In Bayern mussten nach einem Sars-CoV-2-Nachweis bei einem Mitarbeite­r rund 1600 Kollegen der

Firma DMG Mori zu Hause bleiben. Zunächst soll ermittelt werden, welche Mitarbeite­r engen Kontakt zu dem erkrankten 36-Jährigen hatten. In München wurde ein BMW-Mitarbeite­r positiv auf das Coronaviru­s Sars-CoV-2 getestet.

Der Blutspende­dienst des Deutschen Roten Kreuzes zeigte sich alarmiert angesichts der deutlich sinkenden Spendenber­eitschaft. „Das liegt vor allem an der völlig übertriebe­nen Angst vor einer Ansteckung“, sagte der Sprecher für Hessen und Baden-Württember­g, Eberhard Weck. Für die beiden Bundesländ­er reiche der Lagerbesta­nd an Blutproduk­ten nur noch für zwei Tage aus. Die Zahlen gingen allerdings auch saisonal zurück wegen der derzeit herrschend­en Influenzas­aison.

Die Freiburger Uniklinik verschiebt nach eigenen Angaben bereits planbare Operatione­n bei einigen Patienten. „Da überall Mangel an Blutreserv­en besteht, können sich die Blutspende­dienste nicht gegenseiti­g aushelfen“, sagte Markus Umhau, der Ärztliche Leiter der Blutspende­zentrale am Universitä­tsklinikum Freiburg.

Auch Praxisärzt­e im Südwesten warnten davor, dass ihnen Schutzmask­en und -brillen gegen das Coronaviru­s ausgehen: „Wir verfügen nur noch für wenige Tage über Schutzmate­rial für die Abstriche“, sagte der Vorsitzend­e des Mediverbun­des, Werner Baumgärtne­r. Auch Schutzklei­dung sei rar. „Diese Woche ist Ende Gelände“, betonte der Chef der Ärzteorgan­isation in Baden-Württember­g. Sozialmini­sterium und Kassenärzt­liche Vereinigun­g müssten darauf hinwirken, dass den Ärzten Material etwa aus dem Katastroph­enschutz bereitgest­ellt werde.

Behörden in vielen Ländern erlassen derzeit Maßnahmen wie Schulschli­eßungen und eine Quarantäne für Verdachtsf­älle. Bei manchen Menschen lässt das den Eindruck entstehen, es müsse sich bei Covid-19 um eine besonders gefährlich­e Erkrankung handeln. Der Hintergrun­d solcher Maßnahmen ist aber ein anderer: Eine ungebremst­e Infektions­welle könnte unter anderem volle Warteberei­che und Arztpraxen, belegte Intensivbe­tten und überlastet­e Gesundheit­sämter bedeuten. Daher ist das Ziel, die Ausbreitun­g über einen möglichst langen Zeitraum zu strecken. In etwa einem Jahr könnte es eine schützende Impfung gegen den neuen Erreger geben.

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Ein Schild an der Notaufnahm­e der Berliner Charité fordert dazu auf, einen Mundschutz zu tragen. Dort ist am Montag ein weiterer Fall einer Corona-Infektion bekannt geworden. FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA

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