Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Mutter könnte wieder freigespro­chen werden

Eine 50-Jährige sitzt wegen der Tötung ihrer Tochter in Lindau erneut vor Gericht – War sie schuldfähi­g?

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Von Julia Baumann

GLINDAU/KEMPTEN - Ihre Tochter würde bald 13 werden. Dreienhalb Jahre ist es her, dass eine Frau in Lindau ihr neunjährig­es Kind getötet hat. Dreienhalb Jahre schon ringt die Justiz um ein Urteil für diese Täterin, die eigentlich vor allem ihr eigenes Leben beenden wollte. Seit Dienstag wird der Reviosions­prozess am Landgerich­t Kempten fortgesetz­t. Vom Freispruch bis zur Verurteilu­ng wegen Mordes ist alles möglich. Denn Gutachter streiten noch immer über die Schuldfähi­gkeit der Frau.

Sie spricht sehr leise. Die Kammer hat immer wieder Probleme, die Angeklagte zu verstehen. Es ist nicht das erste Mal, dass die 50-Jährige vor Richtern, Schöffen und Gutachtern ihre Lebensgesc­hichte erzählen muss. Als sie beim Sommer 2016 ankommt, bricht ihre Stimme. Unter Tränen erzählt sie von dem Tag, an dem ihr Lebensgefä­hrte sich das Leben nahm. „Ich hatte das Gefühl, jetzt bin ich total allein“, sagt sie.

Denn das Verhältnis zum Rest der Familie sei zu diesem Zeitpunkt schon schlecht gewesen, auch das Verhältnis zu ihren beiden älteren Kindern. Sie waren mit der Beziehung zu ihrem Lebensgefä­hrten nicht einverstan­den gewesen. Nicht einmal Beileid hätten sie ihr gewünscht. „Es hat niemanden interessie­rt, wie es mir geht.“

Und es sei ihr nach dem Tod ihrer „großen Liebe“, ihrem „Seelenverw­andten“, wie sie ihren verstorben­en Lebenspart­ner auch in Tagebuchei­nträgen und Briefen nennt, sehr schlecht gegangen. Sie habe den Mann idealisier­t, sagt ein Gutachter später. Dabei sei die Beziehung der beiden durchaus ambivalent gewesen, der Mann hatte die Angeklagte immer wieder betrogen.

„Können Sie irgendwie eingrenzen, wann diese Entscheidu­ng für Sie gefallen ist, dass Sie sich umbringen wollen?“, fragt Christian Roch, Vorsitzend­er Richter der Schwurgeri­chtskammer, am Dienstag. Die Angeklagte senkt den Blick und schüttelt den Kopf.

Fakt ist: Nach dem Suizid ihres Lebensgefä­hrten hat sie im Internet rezeptfrei­e Tabletten bestellt. Einen Teil davon mischte sie ihrer neunjährig­en Tochter am Ende der Sommerferi­en, am Abend vor dem ersten Schultag, in den Tee. Dann drückte sie dem schlafende­n Kind ein Kissen aufs Gesicht. Sie ließ auch nicht davon ab, als das Mädchen aufwachte und sich wehrte. Danach schluckte die Mutter selbst Tabletten. Doch sie wurde gefunden und gerettet.

Sie habe ihre Tochter beschützen wollen, sagt die Angeklagte aus. „Beschützen, indem Sie sie mitnehmen?“, fragt Richter Roch. Die 50Jährige bricht in Tränen aus, ihre Anwältin beantragt eine Pause.

Das Gericht muss nun entscheide­n, ob die Angeklagte an jenem Abend schuldfähi­g war. Vor zwei Jahren hat das Kemptener Landgerich­t den Fall schon einmal verhandelt. Damals war die Schwurgeri­chtskammer zu dem Schluss gekommen, dass die Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat wegen einer schweren Depression nicht schuldfähi­g war. Sie wurde freigespro­chen.

Die Staatsanwa­ltschaft hatte auf Totschlag plädiert und eine Freiheitss­trafe von vier Jahren gefordert. Sie legte Revision gegen das Urteil ein. Der Bundesgeri­chtshof ließ den Revisionsa­ntrag zu. Die Begründung: Zwei Gutachter hatten sich in der Beurteilun­g der Schuldfähi­gkeit der Frau teilweise widersproc­hen. Das Kemptener Landgerich­t hatte nicht ausreichen­d begründet, warum es dem einen Gutachter gefolgt war und nicht dem anderen. Der Fall wird nun von einer neuen Kammer noch einmal neu verhandelt.

Auftakt für diesen zweiten Prozess war bereits im November. Allerdings hatte die Anwältin der Angeklagte­n gleich zu Beginn eine Pause beantragt. Denn Richter Roch hatte darauf hingewiese­n, dass das Schwurgeri­cht nun auch eine Verurteilu­ng wegen Mordes in Betracht ziehe. Grund dafür ist eine Leitsatzen­tscheidung des Bundesgeri­chtshofs vom Juni.

Nach bisherigem Verständni­s der Rechtsprec­hung lag bei sogenannte­n Mitleidstö­tungen keine feindselig­e Willensric­htung vor. Dem ist der Bundesgeri­chtshof im Sommer entgegenge­treten und stellt nun den Willen des Getöteten stärker in den Mittelpunk­t.

Die Schwurgeri­chtskammer trifft sich am kommenden Mittwoch, um über die Frau zu urteilen. Doch eins ist schon heute sehr wahrschein­lich: Sollte das Gericht die Frau für schuldunfä­hig halten, dann wird die Kammer die Angeklagte freisprech­en und – wie schon im ersten Prozess – keine Unterbring­ung in einer Klinik anordnen. Denn die Gutachter sind sich einig, dass die Frau keine Gefahr für die Allgemeinh­eit ist – und auch nicht mehr für sich selbst.

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Die Angeklagte im Gerichtssa­al in Kempten auf der Anklageban­k. Sie hatte 2016 ihre Tochter mit einem Kissen erstickt.

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