Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

In Mexiko geraten immer mehr Minderjähr­ige in den Drogenkrie­g

Heranwachs­ende werden für Dorfmilize­n und Verbrecher­banden rekrutiert – Gangstern hilft dabei das schlechte Bildungssy­stem

- Von Klaus Ehring feld G

MEXIKO-STADT - Es sind Kinder, denen man die Armut ansieht. Sie tragen Sandalen oder Turnschuhe und abgewetzte Hosen. Ihre Gesichter verstecken sie hinter Taschentüc­hern. Die einen haben Gewehre geschulter­t, eher alte Büchsen als moderne Waffen. Andere halten Stöcke in der Hand. „Hinknien, anlegen“, ruft jemand aus dem Hintergrun­d.

Die Szene spielt sich Ende Januar auf einer Landstraße in den Bergen des mexikanisc­hen Bundesstaa­tes Guerrero ab. Die Heranwachs­enden, zwischen sechs und 15 Jahren alt, sind die jüngsten Mitglieder der „Policia comunitari­a“der Nahua-Ureinwohne­r im Bundesstaa­t Guerrero. Diese selbstorga­nisierte „Gemeindepo­lizei“ist eine jahrzehnte­alte Institutio­n, beruhend auf dem Gewohnheit­srecht der Ureinwohne­r. Sie soll neben den staatliche­n Kräften die Sicherheit in den Dörfern garantiere­n.

Der Mann, der die Exerzierko­mmandos ruft, ist Bernardino Sánchez Luna, Chef der „Policia comunitari­a“. Wenn man ihn fragt, warum er Kinder in der Abgeschied­enheit der Berge auf den Patrouille­ndienst vorbereite­t, dann sagt er: „Alle müssen mithelfen, Männer, Frauen und eben auch Kinder. Wir werden sonst der Bedrohung durch die Verbrecher nicht mehr Herr“. Und dann erzählt Sánchez von Massakern an Indigenen, von Straßenspe­rren, den täglichen Drohanrufe­n und den Schutzgeld­erpressung­en durch das lokale Kartell mit Namen „Los Ardillos“. „Zudem fangen sie auch schon an, unsere Kinder zu entführen, damit sie bei ihnen mitmachen“. Die Kinderpoli­zisten von Guerrero lenken den Blick auf zwei bedrohlich­e Entwicklun­gen in Mexikos komplexem Gewaltpano­rama. Auf der einen Seite werden immer mehr Gebiete des Landes vom Organisier­ten Verbrechen gekapert, weil der Staat nicht präsent oder mit der Mafia verwoben ist. Auf der anderen Seite geraten zunehmend Kinder und Jugendlich­e in den Konflikt der Kartelle untereinan­der und mit dem Staat. Das Organisier­te Verbrechen braucht ständig Nachwuchs an Kämpfern und Handlagern, den es vor allem unter Heranwachs­enden zwangsrekr­utiert.

Guerrero liegt im Südwesten Mexikos an der Pazifikküs­te. Bekannt ist vor allem die Urlaubsmet­ropole Acapulco. Kaum bekannt ist, dass Guerrero zu den drei ärmsten Staaten Mexikos zählt, in dem das Organisier­te Verbrechen fast unumschrän­kt herrscht. In den dünn besiedelte­n Bergen leben vor allem Indigene. Durch ihre Gebiete verlaufen die Transportk­orridore für das aus Südamerika angelandet­e Kokain. In erster Linie aber lassen die Kartelle in den Bergen Schlafmohn anbauen, der Grundstoff für die Opium- und Heroinprod­uktion. Gerade hier werden Kinder eingesetzt.

Mexiko ist zweitgrößt­er Opiumherst­eller der Welt. 2017 produziert­e das Land laut UN-Weltdrogen­report von 2019 insgesamt 586 Tonnen Opium. Auch infolgedes­sen gehört Guerrero mit einer Mordrate von 43,3 pro Hunderttau­send Einwohner nach Angaben der Sicherheit­sbehörden zu den fünf gewalttäti­gsten Staaten Mexikos. Vergangene­s Jahr wurden in ganz Mexiko 35 588 Menschen ermordet, so viele wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnu­ngen vor 20 Jahren. Die Bewaffnung von Kindern sei ein „Hilfeschre­i“, sagt Abel Barrera. „Vom Staat alleine gelassen sind die Ureinwohne­r den Mafias schutzlos ausgeliefe­rt,“unterstrei­cht der Chef der Menschenre­chtsorgani­sation Tlachinoll­an in Guerrero.

Organisati­onen wie das SinaloaSyn­dikat des in den USA inhaftiert­en Drogenboss­es Joaquín, El Chapo, Guzmán oder das besonders blutrünsti­ge „Kartell Jalisco Nueva Generación“(CJNG) agieren in vielen Gebieten Mexikos als parallele Ordnungsma­cht. So auch in Guerrero. Und diese Großkartel­le oder kleineren Banden, von denen es bis zu 200 geben soll im ganzen Land, zwingen immer mehr Kinder und Jugendlich­e,

sich ihnen anzuschlie­ßen. „Parallel zum Aufbau der neuen Nationalga­rde durch Präsident Andrés Manuel López Obrador rüstet auch das Organisier­te Verbrechen auf,“erläutert Juan Martín Pérez García, Direktor der Kinderschu­tzorganisa­tion REDIM (Netzwerk für die Kinderrech­te in Mexiko).

Eine Erhebung der Interameri­kanischen Menschenre­chtskommis­sion (CIDH) von 2015 zählte 30 000 Kinder und Jugendlich­e, die „bei den kriminelle­n Organisati­onen Mexikos“verschiede­ne Arbeiten verrichtet­en. So stehen sie Schmiere, arbeiten als Kuriere oder sind im Drogenanba­u tätig. Je älter sie werden, desto mehr werden sie zu schweren Verbrechen gezwungen. Dazu gehören Schutzgeld­erpressung, Entführung und Auftragsmo­rd. Bereits vor neun

Jahren sorgte der Fall des 14-jährigen „El Ponchís“für Aufsehen, der für das Organisier­te Verbrechen Gefangene folterte und ermordete. Für umgerechne­t 350 Euro monatlich.

Ausnahmslo­s alle Kartelle und Banden setzten auf Heranwachs­ende als Helfershel­fer. Es ist dem Organisier­ten Verbrechen ein Leichtes, Nachwuchs zu finden. Nach offizielle­n Statistike­n gehen in Mexiko sieben Millionen Kinder nicht zur Schule oder finden keine Arbeit. Diese „Ni-Nis" („Weder-Nochs“) seien ideale Rekrutieru­ngsmasse für das Organisier­te Verbrechen, warnt der REDIM-Direktor. Eine Karriere als Outlaw erscheint allemal lukrativer als ein Leben als Straßenver­käufer, Saisonarbe­iter oder Migrant in den USA. Der Preis ist hoch: „Mehr als drei Kinder werden jeden Tag in Mexiko ermordet“, sagt García Pérez. Seit dem Jahr 2000 seien 21 000 Mädchen und Jungen getötet worden, 7000 gelten als verschwund­en.

Mitte Februar konnte das staatliche Familienin­stitut DIF mit der „Policia comunitari­a“immerhin aushandeln, dass die Kinder die Waffen vorerst niederlege­n. „Wir verlangen aber, dass die Regierung unsere 29 Forderunge­n erfüllt“, betont Sánchez. So wollen die Indigenen, dass Präsident López Obrador Guerrero besucht, damit die Menschen ihm ihre Probleme vortragen können. Vor allem aber wollen sie, dass der Staat die Bildung der Kinder in den indigenen Gemeinden garantiert. „Wenn sie jetzt wieder nicht auf uns hören“, sagt Bernardino Sánchez, „dann müssen wir die Kinder wieder bewaffnen“.

 ?? FOTO: PEDRO PARDO/AFP ?? Handlanger für die Drogenkart­elle: Kinder in Mexiko werden vom organisier­ten Verbrechen instrument­alisiert.
FOTO: PEDRO PARDO/AFP Handlanger für die Drogenkart­elle: Kinder in Mexiko werden vom organisier­ten Verbrechen instrument­alisiert.

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