Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Gewalttat in Volkmarsen bleibt spürbar

In der nordhessis­che Kleinstadt ist das Leben nach der Amokfahrt ein anderes

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Von Göran Gehlen

GVOLKMARSE­N (dpa) - Ein Auto rast in eine Menschenme­nge. Die Gewalttat erschütter­t die Kleinstadt Volkmarsen – und weit darüber hinaus. Eine Woche danach ist der Alltag in Nordhessen zurück – doch die Tat wirkt nach.

Eine Reihe abgebrannt­er Kerzen auf der Kirchenmau­er – das ist zunächst alles, was in Volkmarsen noch an die Gewalttat vor einer Woche erinnert. Am Rosenmonta­g raste ein Autofahrer in eine Menschenme­nge, nun sind alle sichtbaren Spuren des Vorfalls verschwund­en. In dem Supermarkt hinter dem Tatort herrscht normaler Betrieb. Doch: „Die Ruhe täuscht“, sagt Volkmarsen­s parteilose­r Bürgermeis­ter Hartmut Linnekugel.

Wenn er durch den Ort gehe, sei die innere Aufgewühlt­heit sofort zurück. Vor allem eine Frage beschäftig­e die Einwohner, sagt Linnekugel: „Warum?“Was bewegte den 29 Jahre alten mutmaßlich­en Täter dazu, sein Auto in die Menge zu steuern? Was trieb ihn an, mehr als 100 Menschen zu verletzen, darunter zahlreiche Kinder? Eine Antwort auf diese Fragen gibt die ermittelnd­e Generalsta­atsanwalts­chaft Frankfurt bisher nicht. „Wir haben sie auch nicht“, so der Bürgermeis­ter.

Es werde noch viel über die Tat gesprochen, sagt auch der katholisch­e Pfarrer der Stadt, Martin Fischer. Statt des Tatverdäch­tigen stünden dabei aber die Familien der Opfer im Mittelpunk­t. „Das zeigt, dass man Anteil am Schicksal der Menschen nimmt.“Die 7000-Einwohner-Stadt Volkmarsen im Landweiter kreis Waldeck-Frankenber­g ist eine katholisch­e Enklave in einer protestant­ischen Region. Der Karneval hat besondere Bedeutung – er sei das wichtigste Fest des Jahres, sagt Linnekugel. Der Präsident der örtlichen Karnevalsg­esellschaf­t, Christian Diste, sprach beim Gottesdien­st am Tag nach der Tat vom „Herz des Volkmarser Karnevals“, das zerstört worden sei. Heute sagt er: „Es wird

schlagen, da bin ich mir sicher. Aber es wird anders sein.“

Die Tat hat auch überregion­al eine Welle der Solidaritä­t mit der Kleinstadt ausgelöst. Hunderte Briefe seien eingegange­n, sagt der Bürgermeis­ter. Es habe viele Hilfsangeb­ote gegeben – zum Beispiel von einem Busunterne­hmer, mit betroffene­n Kindern eine Fahrt in einen Freizeitpa­rk zu machen. Auch Karnevalsv­ereine

aus ganz Deutschlan­d hätten sich gemeldet, erzählt Diste: „Es tut gut, wenn jemand an einen denkt, auch wenn er nicht unmittelba­r helfen kann.“Eine Besonderhe­it der Gewalttat war, dass viele Kinder – zuletzt sprachen Behörden von 20 – unter den Opfern waren oder zuschauen mussten. Laut Christian Diste, der selbst Vater ist, standen bereits am Dienstag Schulpsych­ologen bereit. „Die Schulen haben sofort dafür gesorgt, dass jemand da ist.“

Wie Volkmarsen langfristi­g mit der Erinnerung an die Gewalttat umgehen wird, wissen weder Diste noch Linnekugel. Stadt und Karnevalsg­esellschaf­t haben ein Spendenkon­to eingericht­et. Was mit dem dort eingehende­n Geld geschehen soll, ist noch unklar. Sicher sei aber, dass es Verletzten, Angehörige­n und Kindern zugute kommen soll. „Wir werden da gute Ideen entwickeln“, sagt der Karnevalis­t Diste.

Das öffentlich­e Leben in der Stadt muss weitergehe­n. Der örtliche Fußballver­ein VfR Volkmarsen feiert dieses Jahr sein 100-jähriges Bestehen. Und für Mai ist in einem Volkmarser Stadtteil ein Schützenfe­st geplant.

Das Thema Sicherheit wird laut Bürgermeis­ter Linnekugel wichtiger werden. Aber eine komplette Abschottun­g oder Vorkehrung­en wie bei Veranstalt­ungen in Großstädte­n seien nicht möglich. „Das können wir nicht, und ich glaube auch nicht, dass es uns schützt“, sagt Diste. Dass beim Karneval im nächsten Jahr bewaffnete Polizisten neben feiernden Kindern stehen, sei „ein Bild, das nicht passt. Aber es wird kommen“.

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