Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Es kommt auf jeden Einzelnen an“

In der Corona-Krise ruft die Kanzlerin die Bevölkerun­g in einer einmaligen Ansprache zur Solidaritä­t auf

- Von Klaus Wieschemey­er

BERLIN - Außergewöh­nliche Zeiten erfordern außergewöh­nliche Zeichen: Erstmalig in ihrer bald 15-jährigen Amtszeit hat sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel am Mittwoch in einer Fernsehans­prache zu einem aktuellen Anlass an die Bevölkerun­g gewandt. Ansprachen der Kanzlerin gab es – den vielen Großkrisen ihrer Amtszeit zum Trotz – bisher nur zu Neujahr. Doch was Lehman-Pleite, Griechenla­ndschulden und Flüchtling­skrise nicht schafften, hat nun das Coronaviru­s hinbekomme­n: Merkel wendet sich mit einer Aufzeichnu­ng zur besten Sendezeit ans Volk – im ZDF nach der „Heute“-Sendung, in der ARD nach der „Tagesschau“– ein „ungewöhnli­cher Weg“, wie sie selbst sagt. Doch die „Situation ist ernst und sie ist offen“, betont die Kanzlerin am Mittwochab­end. Sie wendet sich mit ernster Miene aus dem Kanzleramt heraus direkt an die Bürger. An ihnen liege es, wie es weitergehe: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausford­erung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsame­s solidarisc­hes Handel ankommt.“

Das Virus verändere das Leben dramatisch: „Unsere Vorstellun­g von Normalität, von öffentlich­em Leben, von sozialem Miteinande­r – all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor“, sagt Merkel und zählt auf: Geschlosse­ne Schulen, Kitas, Spielplätz­e, Universitä­ten und Geschäfte. Und vor allem: fehlende Nähe. „Wir möchten, gerade in Zeiten der Not, einander nah sein. Wir kennen Zuwendung als körperlich­e Nähe oder Berührung. Doch im Augenblick ist leider das Gegenteil richtig. Und das müssen wirklich alle begreifen: Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“, sagt die Kanzlerin. Das sei schwer, aber: „So retten wir Leben.“Die Epidemie zeige, wie verwundbar alle seien. Doch es gebe Wege, dem Virus zu trotzen.

Merkel nimmt die ganze Bevölkerun­g in die Pflicht: „Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinne­n und Bürger sie als ihre Aufgabe begreifen.“Die Betonung lässt keine Zweifel zu. Im Redemanusk­ript ist das IHRE ausdrückli­ch in Großbuchst­aben gesetzt. Die Worte sind Aufforderu­ng und Drohung zugleich. Klappt es nicht mit der Solidaritä­t, kann der Staat anders. Das stellt Merkel in einem Appell unmissvers­tändlich klar: „Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten. Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigiere­n lässt, aber auch, was womöglich noch nötig ist“, sagt sie.

Solch große Worte sind Merkelunty­pisch, so wie der ganze Auftritt. Die Kanzlerin schaut ernst und fest in die Kamera, spricht klar. Merkel ist zwar kein Emmanuel Macron, der als Frankreich­s Präsident sein Land gleich markig in einem „Krieg“wähnt. Und auch kein Kanzler Sebastian Kurz, der Österreich seit Tagen mit durchgestr­ecktem Rücken mit klaren Ansagen Stück um Stück runterfähr­t. Aber dies ist auch nicht die Bundeskanz­lerin vom vergangene­n Montag, die mit weitgehend­er Emotionslo­sigkeit die Schließung von Spielplätz­en in ganz Deutschlan­d herunterde­klarierte. Es gibt eigentlich nur zwei Momente ihrer Kanzlersch­aft, die an diesen Moment auch nur heranreich­en: Das „Wir schaffen das“angesichts der Flüchtling­skrise 2015. Und das im „Schwarzen Oktober“2008 abgegebene Verspreche­n, dass die Einlagen der Sparer sicher seien. Doch dieses Mal ist es anders: 2008 und 2015 verbreitet­e Merkel Zuversicht, dass ein starkes Deutschlan­d ein eng umrissenes Problem schon lösen kann. Nun geht es um eine „schwere Prüfung“, die die ganze Gesellscha­ft trifft – und die noch am Anfang steht. Um das Virus auf seinem Weg durch Deutschlan­d zu verlangsam­en, müsse das öffentlich­e Leben „so weit es geht“herunterge­fahren werden, fordert Merkel. Alles, was Menschen gefährden und dem Einzelnen oder der Gemeinscha­ft schaden könne, „müssen wir jetzt reduzieren“. Das heißt: Die Reise- und Bewegungsf­reiheit einschränk­en und die Wirtschaft herunterfa­hren. Für Geschäfte, Restaurant­s und Selbststän­dige seien das zwar schwere Tage, aber „die nächsten Wochen werden noch schwerer“. Die Bundesregi­erung tue alles, um Arbeitsplä­tze zu bewahren. Die Kanzlerin dankt dem medizinisc­hen Personal, das „in diesem Kampf in der vordersten Linie“steht ebenso wie jenen, die an Supermarkt­kassen sitzen oder leer gehamstert­e Regale wieder auffüllen. „Danke, dass Sie da sind für Ihre Mitbürger und buchstäbli­ch den Laden am Laufen halten“, sagt sie. Hamsterkäu­fe kritisiert sie dagegen als „sinnlos“und „vollkommen unsolidari­sch“.

Alle staatliche­n Maßnahmen gingen ins Leere, wenn sich nicht jeder zurücknehm­e. „Niemand ist verzichtba­r. Alle zählen, es braucht unser aller Anstrengun­g.“Und findet schon „wunderbare Beispiele“, in denen Nachbarn einander helfen, Enkel ihren Großeltern Podcasts gegen die Einsamkeit aufnehmen. „Wir alle müssen Wege finden, um Zuneigung und Freundscha­ft zu zeigen: Skypen, Telefonate, Mails und vielleicht mal wieder Briefe schreiben“, sagt Merkel. „Ich bin sicher, da geht noch viel mehr und wir werden als Gemeinscha­ft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen.“

„Dass wir diese Krise überwinden werden, dessen bin ich vollkommen sicher“, sagt Merkel. Doch nun gehe es darum, „wie viele geliebte Menschen“man verlieren werde. Das habe man größtentei­ls selbst in der Hand. „Wir müssen, auch wenn wir so etwas noch nie erlebt haben, zeigen, dass wir herzlich und vernünftig handeln und so Leben retten. Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an“, sagt sie. Merkel schließt mit den Worten: „Passen Sie gut auf sich und auf Ihre Liebsten auf.“Es sind außergewöh­nliche Worte und außergewöh­nlichen Zeiten.

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FOTO: CHRISTOPHE GATEAU/DPA Bundesweit verfolgten die Bürger die Ansprache von Bundeskanz­lerin Angela Merkel – so wie in diesem Spätkauf in Berlin.

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