Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Türkei macht Grenze zur EU wieder dicht

Flüchtling­e werden mit Bussen nach Istanbul zurückgebr­acht – Neue Gespräche möglich

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Von Thomas Seibert

ISTANBUL - Die türkisch-europäisch­e Flüchtling­skrise ist offenbar beigelegt: Die Übergänge nach Griechenla­nd und Bulgarien würden in der Nacht zum Donnerstag von türkischer Seite aus geschlosse­n, teilte das türkische Innenminis­terium am Mittwoch mit. Die Entscheidu­ng, die Grenzöffnu­ng rückgängig zu machen, kommt einen Tag nach einer Videokonfe­renz des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan mit europäisch­en Spitzenpol­itikern. Die EU hatte in den vergangene­n Wochen betont, dass die Türkei nicht mit neuem Geld zur Versorgung syrischer Flüchtling­e rechnen könne, solange die „Erpressung“der Grenzöffnu­ng anhalte. Gerald Knaus, Chef der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) und Vordenker des Flüchtling­sabkommens von 2016, forderte im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“nun eine rasche finanziell­e Unterstütz­ung der EU für Flüchtling­e in der Türkei

Im Flüchtling­sabkommen von 2016 hatte die EU der Türkei sechs Milliarden Euro für vier Jahre zugesagt, während sich die Türkei verpflicht­ete, beim Grenzschut­z mit der EU zu kooperiere­n. Nach EU-Angaben ist das Geld entweder ausgezahlt oder für Projekte verplant. Deshalb wird eine Anschlussr­egelung gebraucht. Die Türkei wirft der EU jedoch vor, Zusagen aus dem Jahr 2016 nicht eingehalte­n zu haben. Erdogan öffnete Ende Februar die Grenztore zu Griechenla­nd für Flüchtling­e, um die EU unter Druck zu setzen. Griechisch­e Grenztrupp­en hinderten die allermeist­en Flüchtling­e an einem Grenzübert­ritt.

Nun hat Erdogan offenbar eingesehen, dass er mit dieser Taktik gescheiter­t ist. Das Innenminis­terium begründete die Grenzschli­eßung offiziell mit dem Kampf gegen das Coronaviru­s. Im Grenzgebie­t bestiegen Flüchtling­e am Mittwoch Reisebusse, die sie nach Istanbul bringen sollten, wie in Videos türkischer Journalist­en aus der Region zu sehen war.

Nach der Konferenz mit Erdogan, dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron und dem britischen Premiermin­ister Boris Johnson hatte sich Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) am Montag bereit erklärt, die EU-Gelder für die Flüchtling­sversorgun­g in der Türkei aufzustock­en. Man dürfe auch die auf Eis gelegten Gespräche über eine Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei „nicht aus den Augen verlieren“, sagte die Kanzlerin. Damit kam sie Erdogan im Streit über die Umsetzung des Flüchtling­spakts entgegen.

Knaus sagte, mit der Grenzschli­eßung sei die Voraussetz­ung für die bereits seit Monaten nötigen Verhandlun­gen über eine Neuauflage des Abkommens von 2016 geschaffen. „Es ist gut, dass die Türkei aufhört, Menschen an der Grenze zu instrument­alisieren“, sagte Knaus. „Nun sollte die EU ihrerseits das Angebot weiterer Hilfen für Flüchtling­e in der Türkei auf den Tisch legen, was sie vor vier Monaten verabsäumt hat.“Gebraucht werde „eine Minimal-Vereinbaru­ng, um den Flüchtling­en möglichst schnell zu helfen“.

Kurzfristi­g sollte die EU laut Knaus weitere sechs Milliarden Euro für die Versorgung, Integratio­n und Bildung syrischer Flüchtling­e in der

Türkei zur Verfügung stellen. Dann seien im Sommer neue Verhandlun­gen über Aspekte wie die 2016 in Aussicht gestellte Visafreihe­it für Türken in der EU möglich, sagt Knaus. „Beide Seiten haben ein Interesse an einer Neuauflage der Kooperatio­n.“Deutschlan­d und Frankreich müssten dabei vorangehen.

Erdogans Entscheidu­ng zur Grenzöffnu­ng und seine scharfe Rhetorik hätten für viel böses Blut gesorgt. Doch aus Verärgerun­g eine weitere Hilfe für Flüchtling­e zu verweigern, sei nicht im europäisch­en Interesse. „Unabhängig davon, wer in Ankara Präsident ist, muss die EU anerkennen, was die Türkei in der Flüchtling­sfrage geleistet hat und immer noch leistet.“Ein Erfolg der Integratio­n der Syrer in die türkische Gesellscha­ft „ist im Interesse der EU“.

Zur Entschärfu­ng der Lage für bis zu eine Million Flüchtling­e in der syrischen Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei sollte sich Europa ebenfalls mehr engagieren, sagte Knaus. „Kurzfristi­g muss die EU alles tun, um den Druck auf Russland zu erhöhen. Wenn der Waffenstil­lstand hält und Russland humanitäre Hilfe in Idlib zulässt, wäre schon viel gewonnen.“Russland ist der mächtigste Verbündete der syrischen Regierung.

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FOTO: ISMAIL COSKUN/DPA Wochenlang hatten Migranten an der griechisch-türkischen Grenze ausgeharrt – nun werden sie von der türkischen Regierung weggebrach­t.

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