Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Eine Astrid Lindgren für die Kinder von heute
Durch „Ritter Trenk“oder die „Möwenweg“-Reihe hat Kirsten Boie viele junge Fans – Die Autorin wird 70
Von Sabine Kleyboldt
HAMBURG (KNA) - Schuld ist eigentlich das Jugendamt. Als Kirsten Boie mit ihrem Mann 1983 einen Sohn adoptierte, durfte sie auf Geheiß der Behörde nicht mehr arbeiten. Also beschloss die Lehrerin, stattdessen zu schreiben – und landete mit ihrem Erstling gleich einen Volltreffer. Inzwischen hat die promovierte Literaturwissenschaftlerin mehr als 100 Titel veröffentlicht, viele Preise erhalten und sich als eine der bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands etabliert. Am 19. März wird Kirsten Boie 70 Jahre alt.
Ihr Debütroman „Paule ist ein Glücksgriff“, nicht ganz zufällig die Geschichte eines dunkelhäutigen Adoptivkindes, begeisterte 1985 Publikum und Kritik und schaffte es sogar auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Im gleichen Jahr gesellte sich bei Familie Boie zum Sohn eine Adoptivtochter. Und Kirsten Boie erkannte nach dem Ärger über die Auflagen des Jugendamts ihre Chance: Schließlich hatte sie bereits mit 15 Schriftstellerin werden wollen.
So folgten über die Jahre Bücher wie „Der kleine Ritter Trenk“, „Seeräubermoses“, „Skogland“, „Lena“, „Die Medlevinger“und vor allem die „Möwenweg“-Bände. Boies Erfolg machen nicht nur ihr lebendiger, variabler Stil und die originellen Plots aus unterschiedlichen Kulturen und Epochen aus. Die Autorin scheut auch nicht ernste Themen. So etwa Rassismus („Schwarze Lügen“),
Flucht („Bestimmt wird alles gut“), Aids-Waisen („Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“) sowie Aufarbeitung der Nazizeit („Ringel, Rangel, Rosen“).
2009 schrieb sie auf Anregung des Hamburger Straßenmagazins „Hinz&Kunzt“das Buch „Ein mittelschönes Leben“: die Geschichte eines Mannes, der durch Schicksalsschläge Arbeit, Familie und sein Dach über dem Kopf verliert. „So wollte ich deutlich machen, das sind nicht andere Menschen als wir, sondern das kann fast jedem ganz schnell passieren“, sagte Boie der Katholischen Nachrichten-Agentur. „Wir wünschen uns mehr Respekt für diese Menschen!“
Respekt zollt sie auch ihren jungen Lesern, indem sie sie ernst nimmt – und ihnen mitunter einiges zumutet. „Alles, was es im Leben gibt, darf es auch in der Kinderliteratur geben“, sagt Boie. „Wenn Kinder irgendwann mit Krisen konfrontiert sind, dann halte ich es für sehr wichtig, dass es Texte gibt, die ihnen davon erzählen und ihnen helfen, sich damit auseinanderzusetzen.“Schon das Gefühl, nicht allein zu sein, könne trösten. „Selbst wenn Bücher keine Lösung anbieten.“
Viele ihrer Titel sind in andere Sprachen übersetzt, nicht wenige verfilmt. Boies „Möwenweg“-Bücher – mit einer Million verkaufter Bände ihre erfolgreichste Reihe – werden mit den „Bullerbü“-Geschichten von Astrid Lindgren verglichen. Tatsächlich schätzt sie die heile Welt ihrer berühmten Kollegin. Doch ähnlich wie Lindgren geht es ihr nicht nur um Unterhaltung. Mit ihrem Detektivroman „Thabo“etwa wollte sie das Image Afrikas korrigieren – weg von Elend und Trostlosigkeit. Boie selbst hält sich mindestens einmal im Jahr in Afrika auf. Mit ihrer Möwenweg-Stiftung unterstützt sie unter anderem ein Aids-Waisenprojekt in Swasiland, das rund 4000 Kinder betreut.
Für ihre literarischen und sozialen Verdienste wurde sie vielfach geehrt, unter anderem mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur für ihr Lebenswerk, dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher, dem Bundesverdienstorden und dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Gesamtwerk.
Ein weiteres wichtiges Thema ist für Boie, aus deren Feder auch Hörspiele, Drehbücher etwa für die ZDFKinderserie „Siebenstein“und Essays stammen, die Leseförderung. Denn: Lesen ist die Schlüsselqualifikation für die Teilhabe an der Gesellschaft, so die Literatin. 2018 initiierte sie die Hamburger Erklärung „Jedes Kind muss lesen lernen“, um eine bundesweite Diskussion anzuregen. „Lesen zwingt mich immer wieder, mich mit meinen eigenen Überzeugungen auseinanderzusetzen, bisweilen bringt es sie sogar ins Wanken“, sagt Boie. „Damit ist es wichtig für die Demokratie.“