Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Ich fühle mich in Japan sicherer als in Deutschland“
Wie die ehemalige Wasserburgerin Julia Gerster die Corona-Krise in Japan erlebt
WASSERBURG/SENDAI - Erdbeben, Tsunami, Reaktorunglück: Julia Gerster kennt sich mit Katastrophen aus. Als Professorin an der Tohoku University in Sendai erforscht sie, wie Betroffene mit Krisen umgehen. Nun erlebt sie – wie viele Menschen auf der Welt – eine ganz neue: die Corona-Pandemie. Warum sich die ehemalige Wasserburgerin momentan in Japan sicherer als in Deutschland fühlt.
Das Land hatte am 18. März 874 Infizierte sowie 29 Todesfälle. Wie viele andere geht Julia Gerster aber von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus, da in Japan nur sehr zurückhaltend getestet wird. Inzwischen sei jedoch ein 15-Minuten-Schnelltest herausgegeben worden, der mehr Tests ermöglichen soll. „Ich denke, man kann dann auch mit einer stark erhöhten Anzahl an Krankheitsfällen rechnen“, sagt Gerster.
Angst macht das der 32-Jährigen nicht. „Ich fühle mich momentan in Japan wesentlich sicherer als in Deutschland“, sagt sie. Der Grund: Die japanische Gesellschaft sei „sehr krisenerprobt“. Gerster sorge sich eher um ihre Freunde und Verwandte in Deutschland, „wo sich die Lage ja nun sehr schnell zu verschlechtern scheint“.
Das Corona-Virus hat das Leben der jungen Wissenschaftlerin bislang noch nicht stark eingeschränkt. In Sendai, wo sie lebt, gebe es momentan weder einen gemeldeten Fall noch Quarantäneverordnungen oder Ausgangssperren. Da ihre Forschungsarbeit stark auf Interviews basiert, muss sie allerdings in ihrer täglichen Arbeit neue Wege suchen. „Glücklicherweise lässt sich viel per E-Mail erledigen.“Auslandsreisen seien abgesagt, einige Meetings durch E-Mails ersetzt worden. Finden doch welche statt, so müsse man Mundschutz tragen und sich die Hände desinfizieren. Auch in Japan sind die Schulen geschlossen, Großveranstaltungen
abgesagt und der Semesteranfang der meisten Unis verschoben. Einschulungs- und Abschlusszeremonien fallen aus oder werden online übertragen. „In Kindergärten und Grundschulen wurden die Eltern auf verschiedene Zimmer aufgeteilt und auseinandergesetzt, damit sie eine Liveübertragung der Zeremonie sehen konnten“, berichtet Gerster. Wer eine Maske hat, trägt sie selbstverständlich. Einige Arbeitgeber bieten Homeoffice und Gleitzeit an, ein Novum in Japan: „Das wäre letztes Jahr in Japan, wo alle Menschen alles gleich machen müssen und Präsenz über Produktivität steht, noch undenkbar gewesen“, sagt Gerster. Sie hofft, dass diese Entwicklung auch nach der Krise anhält.
Selbst wenn es zu weiteren Einschränkungen bis hin zu einer Ausgangssperre kommen sollte: Die ehemalige Wasserburgerin kann dem entspannt entgegensehen. Sie und ihr Mann, der Texter und Schriftsteller ist, haben „das Glück, von überall aus arbeiten zu können“, sagt sie. Allerdings macht sie sich Sorgen um „Freunde überall auf der Welt“, die in der Gastronomie-, Tourismus-, oder Künstlerbranche arbeiten und Existenzängste haben.
Die Stimmung sei in Japan trotz allem „vergleichsweise gelassen“. Restaurants und Bars haben weiterhin geöffnet, auch wenn davon abgeraten werde, sich in größeren Gruppen in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Obwohl die junge Frau gern unter Menschen ist, hält auch sie sich jetzt in ihrer Freizeit zurück.
Julia Gerster berichtet, dass es auch in Japan „Panikkäufe“von Klopapier, Desinfektionsmitteln und Masken gab. Allerdings laufe selbst das recht geregelt ab. „Die Menschen stehen an und keiner drängelt.“Klopapier sei inzwischen wieder erhältlich, aber bei Masken und Reinigungsalkohol gebe es immer noch
„Homeoffice fällt vielen Angestellten und Arbeitgebern noch schwer, weil die Arbeitskultur sehr darauf ausgelegt ist, Präsenz zu zeigen.“
Engpässe. Öffentliche Einrichtungen verwenden Notvorräte, die in Japan für Katastrophenfälle vorbereitet sind.
Im japanischen Alltagsleben gebe es viele Aspekte, die sich positiv gegen eine Virusverbreitung auswirken, sagt Gerster: Man gibt sich nicht die Hand zur Begrüßung (man verbeugt sich), der Abstand zum Gesprächspartner ist größer, Snacks oder Kekse für Gäste sind stets einzeln verpackt, sodass sie keine andere Person vor dem Verzehr anfassen würde, Masken werden generell auch im Alltag getragen, um niemanden anzustecken oder um nicht angesteckt zu werden.
Und wie steht es um die Olympischen Spiele, die im Sommer in Japan stattfinden sollen? Laut einer Umfrage sprechen sich um die 70 Prozent der Bevölkerung gegen die Spiele aus, berichtet die Wissenschaftlerin. Mittlerweile ist es auch offiziell: Die Spiele werden verlegt. Dabei sahen viele Bürger – vor allem in Tokio – den Spielen mit großer Freude entgegen, da sie auch als „Zeichen der Hoffnung“geplant waren. Japan war in den vergangenen Jahren von mehreren Katastrophen heimgesucht worden. Mit dem Virus kommt vermutlich eine weitere dazu.
Julia Gerster