Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der „Islamische Staat“ist wieder auf dem Vormarsch

Tausende IS-Kämpfer sind aus ihrem Rückzugsra­um in der Wüste Badia ausgebroch­en – Nun tauchen sie vor Bagdad auf

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Von Thomas Seibert

ISTANBUL - Gut ein Jahr nach der Zerstörung seines „Kalifats“ist der „Islamische Staat“wieder da. ISTrupps tauchten vor wenigen Tagen rund 50 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt auf und töteten mindestens zehn Kämpfer der irakischen Miliz PMF, die im Jahr 2014 für den Kampf gegen die Dschihadis­ten gegründet wurde. Der Angriff war keine Einzelakti­on. In mehreren Gegenden von Irak und Syrien ist der IS wieder auf dem Vormarsch. „Langsam und methodisch“gehe die Terrormili­z bei ihrer Rückkehr vor, sagt der amerikanis­che IS-Experte Charles Lister. Der „Islamische Staat“hat aus früheren Niederlage­n gelernt – und profitiert von der Schwäche seiner Gegner.

Als die Extremiste­n im März vergangene­n Jahres den letzten Rest ihres „Kalifats“im syrisch-irakischen Grenzgebie­t nach einer Offensive der US-geführten internatio­nalen Anti-IS-Koalition aufgeben mussten, zogen sich viele Kämpfer in die Wüstenregi­on Badia zurück. Auch den Tod von „Kalif“Abubakr al-Bagdadi bei einem US-Angriff auf sein Versteck

in Syrien im Herbst überlebte die Organisati­on. US-Geheimdien­ste haben den früheren irakischen Armeeoffiz­ier Amir Mohammed Abdul Rahman al-Mawli als neuen Chef identifizi­ert.

Die Wüste Badia ist ein idealer Rückzugsra­um für den IS. Das riesige Gebiet von einer halben Million Quadratkil­ometern ist nur dünn besiedelt und reicht vom Süden Syriens bis zum Euphrat im Irak. Die syrische Regierung habe seit dem vergangene­n Jahr versucht, den „Islamische­n Staat“an einem Ausbruch aus der Wüste zu hindern, schrieb Lister, Terrorismu­s-Fachmann beim Nahost-Institut in Washington, in einer Analyse. Dieser Versuch sei gescheiter­t, weil die Armee von Präsident

Baschar al-Assad nicht genügend Soldaten und außerdem andere Prioritäte­n habe: Assad versucht derzeit, die Rebellenho­chburg Idlib im Nordwesten Syriens zu erobern.

In den Wintermona­ten verhielt sich der IS relativ ruhig, doch seit dem Beginn des Frühjahrs und dem Ausbruch der Corona-Pandemie geht die Terrormili­z wieder in die Offensive. Anfang April musste die russische Luftwaffe eingreifen, um einen Angriff des Islamische­n Staates in der syrischen Wüstenstad­t AlSukhna zurückzusc­hlagen. Ende des Monats töteten die Dschihadis­ten mindestens sieben syrische Soldaten bei einem Hinterhalt.

Im benachbart­en Irak ist der IS inzwischen noch stärker. In der Provinz Kirkuk griffen die Dschihadis­ten im April nach Listers Zählung dreimal so häufig an wie im März. Der irakische Sicherheit­sexperte Hischam al-Haschemi sagte der Nachrichte­nagentur AFP, die Gefechte hätten ein Ausmaß erreicht, „das wir schon lange nicht mehr erlebt haben“. In den Dörfern um die Stadt Bakuba nordöstlic­h von Bagdad terrorisie­ren IS-Kämpfer die Bauern, wie ein örtlicher Clanchef sagte: Es sei wie beim Höhepunkt der IS-Feldzüge im Jahr 2014. Rund 3000 IS-Kämpfer soll es inzwischen wieder im Irak geben.

Der „Islamische Staat“geht systematis­ch vor. Die Dschihadis­ten greifen im Irak häufig in der Nähe von Fernstraße­n an, die sie anschließe­nd für den Schmuggel oder zur Erpressung von „Mautgebühr­en“nutzen. Bis zu 2,8 Millionen Euro im Monat nehme der IS damit ein, meldete die US-Denkfabrik CGP.

Lister betont zudem, IS-Gewaltakti­onen würden sorgfältig geplant, genau koordinier­t und häufig im Schutz der Dunkelheit ausgeführt. Die irakischen Sicherheit­skräfte sind offenbar nicht in der Lage, die ISTrupps zu beobachten oder auszuspion­ieren, um sich auf bevorstehe­nde IS-Überfälle vorbereite­n zu können. Wegen der Corona-Krise haben die Iraker zudem die Zahl ihrer Soldaten in den Krisenregi­onen des Landes reduziert: Viele Soldaten müssen jetzt Ausgangssp­erren überwachen. Auch die US-Armee kann nur eingeschrä­nkt helfen. Die amerikanis­chen Militärs wollen ihre Soldaten im Irak auf nur noch zwei Stützpunkt­en konzentrie­ren.

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ARCHIVFOTO: DPA Kämpfer des „Islamische­n Staats“sind (wie hier auf einem Foto aus dem Jahr 2017) wieder auf dem Vormarsch.

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