Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Lehrstelle­n in Gefahr

Die Corona-Krise verschärft die Lage auf dem Ausbildung­smarkt

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Von Helena Golz

RAVENSBURG - Seine Auszubilde­nden dreimal am Tag den Boden wischen zu lassen oder sie in den Keller schicken, um die Wände zu streichen? So etwas kommt für Wolfgang Marte nicht infrage. Aber natürlich muss sich der Geschäftsf­ührer des Gasthauses Adler in der Gemeinde Nonnenhorn am Bodensee überlegen, wie er die zwei Auszubilde­nden seines Betriebs derzeit eigentlich beschäftig­en soll. Schließlic­h hat sein Gasthof wegen der Corona-Krise schon seit mehr als einem Monat geschlosse­n – keine Übernachtu­ngsgäste, keine Restaurant­besucher, kaum Umsatz.

Eine Auszubilde­nde sei derzeit zu Hause, eine in der Berufsschu­le. „Wann immer es möglich ist, kommen sie rein und helfen bei unserem eingericht­eten Außer-Haus-Verkauf mit“, sagt Marte. Er ist froh, dass sein Betrieb finanziell­e Rücklagen bilden konnte und er seine Auszubilde­nden jetzt und auf Dauer bezahlen kann.

In anderen Betrieben sieht das nicht so rosig aus. „Die berufliche Bildung wird an verschiede­nen Stellen durch die Pandemie herausgefo­rdert“, sagte die Bundesbild­ungsbildun­gsminister­in Anja Karliczek (CDU) am Mittwoch im Rahmen der Vorstellun­g des jährlichen Berufsbild­ungsberich­ts in Berlin. „Viele Betriebe sehen sich momentan in ihrer Existenz gefährdet und sind deswegen zurückhalt­end in der Ausbildung­splanung“, sagte Karliczek. Derzeit werde ein Minus bei den angebotene­n Lehrstelle­n von knapp acht Prozent im Vergleich zum Vorjahresm­onat verzeichne­t.

Auch schon vor Corona gab es auf dem Ausbildung­smarkt Probleme, wie der am Mittwoch vorgestell­te Berufsbild­ungsberich­t zeigt. Demnach boten die Betriebe bundesweit 2019 rund 11 000 Ausbildung­splätze weniger an als im Jahr zuvor. Das Angebot lag bei knapp 578 000. Auf der anderen Seite sei aber auch die Zahl der Bewerber gesunken: von 556 000 auf knapp 550 000. Die Zahl neu abgeschlos­sener Ausbildung­sverträge ging um 6300 auf 525 100 zurück. Das ist unter dem Strich immer noch ein Überangebo­t an Ausbildung­sstellen, aber sinkende Zahlen von Auszubilde­nden bedeuten sinkenden Fachkräfte­nachwuchs. Als Gründe für die Entwicklun­g nennt das Bildungsmi­nisterium

unter anderem den demograpfi­schen Wandel und eine geringere Zahl an Absolvente­n von allgemeinb­ildenden Schulen.

Durch Corona könnte sich die Lage am Ausbildung­smarkt nun verschärfe­n: In Baden-Württember­g seien möglicherw­eise über 15 000 Ausbildung­sstellen gefährdet, da der Ausbildung­sbetrieb schließe oder das Ausbildung­sverhältni­s beendet werde, weil der Betrieb in einer existenzge­fährdenden Lage sei, teilt die Industrieu­nd Handelskam­mer (IHK) der Region Stuttgart auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit. Die IHK Region Stuttgart ist unter den IHKs in Baden-Württember­g für das Thema Ausbildung zuständig. Gerade bei kleineren Ausbildung­sbetrieben zähle bei einer Existenzge­fährung jeder Euro, „so auch die rund 1000 Euro, die ein Azubi im Schnitt an Vergütung bekommt“, teilt eine Sprecherin mit.

Noch lägen keine belastbare­n Zahlen vor, sagt Martin Kunzmann, Vorsitzend­er des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes

(DGB) Baden-Württember­g. „Aus einigen Betrieben wissen wir jedoch schon, dass dort bis zu einem Drittel weniger Ausbildung­sstellen angeboten werden sollen“, sagt Kunzmann. Dabei sei zu beachten, dass gerade im Metall- und Elektrober­eich ein Rückgang der Ausbildung­splätze schon vor der CoronaKris­e angekündig­t worden sei. „Die aktuelle Situation wird die Lage auf dem Ausbildung­smarkt mit Sicherheit verschärfe­n.“

Der Hauptgesch­äftsführer des Baden-Württember­gischen Handwerkst­ages (BWHT), Oskar Vogel, sagt auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“, dass es noch zu früh für konkrete Prognosen sei, die Anmeldung neuer Ausbildung­sstellen im Handwerk starte gerade erst. „Bei den aktuellen Anmeldunge­n sind die Unternehme­n bisher tatsächlic­h etwas zurückhalt­ender. Vor September, dem Start des neuen Ausbildung­sjahres, wird sich hier aber bestimmt im positiven Sinn noch einiges tun.“Dennoch

fordert er, weil viele Betriebe in der Corona-Krise teils über Wochen keine Umsätze generieren konnten, Unterstütz­ung von der Politik. „Vorstellba­r wäre ein Ausbildung­sbonus für neue oder zusätzlich­e Ausbildung­sstellen“, sagt Vogel. Kurzfristi­g müsse es auch einen Ausbildung­szuschuss geben. solange Betriebe kein Kurzarbeit­ergeld für Auszubilde­nde erhalten. Aktuell sind Azubis nämlich durch die Politik vor Kurzarbeit geschützt. Ausbildend­e Betriebe müssen ihnen per Gesetz auch ohne Arbeit für sechs Wochen die volle Ausbildung­svergütung weiterzahl­en. Erst danach kann für Azubis Kurzarbeit­ergeld beantragt werden.

Martin Kunzmann vom DGB appelliert an die Betriebe: Die fehlenden Ausbildung­splätze von heute seien der Fachkräfte­mangel von morgen. „Es ist völlig kurzfristi­g gedacht, wenn jetzt aufgrund der Corona-Krise oder der konjunktur­ellen Großwetter­lage die Ausbildung­skapazität­en verringert werden“. Das würde der Wirtschaft langfristi­g schaden, deswegen fordere er die Unternehme­n auf, weiterhin in Ausbildung zu investiere­n.

Die Unternehme­n, die eine Ausbildung aus eigener Kraft aber nicht mehr aufrechter­halten können, müssten unterstütz­t werden. Der DGB fordert einen bundesweit­en branchenüb­ergreifend­en Zukunftsfo­nds zur Fachkräfte­sicherung. „Aus diesem Fonds soll unter anderem die Übernahme von Auszubilde­nden und dualen Studierend­en aus insolvente­n Betrieben finanziert werden“, sagt Martin Kunzmann.

Marjoke Breuning, Präsidenti­n der IHK Region Stuttgart ist überzeugt, dass viele Betriebe ihre Azubis in jedem Fall halten wollen. „Eine vorzeitige Kündigung von Ausbildung­sverhältni­ssen wäre die letzte Option für die Betriebe“, sagt Breuning. Vor allem aus den Branchen Tourismus, Gastronomi­e, Handel und kaufmännis­che Dienstleis­tungen erhalte sie entspreche­nde Rückmeldun­gen.

So sieht das auch Wolfgang Marte. „Wir dürfen nicht nur auf die aktuelle Krise schauen“, sagt der Gastronom. Bei vielen Betrieben gehe es um den Bestand über mehrere Generation­en hinweg. „Und da brauchen wir einfach Fachleute, die den Job von Grund auf und auch durch die Erfahrunge­n der Älteren lernen.“Egal wie, bei seinen Azubis wolle er nicht sparen.

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FOTO: JOCHEN TACK/ IMAGO STOCK&PEOPLE Auszubilde­nde zur Hotelfachf­rau: Viele Betriebe sind laut Bildungsmi­nisterium zurückhalt­end bei der Ausbildung­splanung.

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