Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Höchste Zeit für Gerechtigkeit
Carl Spitzwegs „Justitia“wurde für 550 000 Euro versteigert
Von Christa Sigg
MÜNCHEN - Jahrzehntelang hing Carl Spitzwegs „Justitia“im Büro der Bundespräsidenten. Gestern Abend wurde das Gemälde – aus jüdischem Besitz – im Münchner Auktionshaus Neumeister für 550 000 Euro versteigert.
Welches Staatsoberhaupt schmückt sich nicht gerne mit der Justitia? Also der Personifikation der Gerechtigkeit, wie sie in vielen Städten vor Gerichtsgebäuden steht – und mit verbundenen Augen ihre Waage hält. Dass ausgerechnet eine Justitia aus dem Umfeld der NSRaubkunst über viele Jahre in den Repräsentationsräumen der Bundespräsidenten hing, darf man mindestens als bizarr bezeichnen. Die Rede ist von Carl Spitzwegs (1808-1885) Gemälde „Das Auge des Gesetzes (Justitia)“aus dem Jahr 1857. Gestern Abend kam es im Münchner Auktionshaus Neumeister, das von Katrin Stoll geleitet wird, unter den Hammer.
Der jüdische Kaufmann und Sammler Leo Bendel aus Berlin hat dieses außergewöhnliche Bild besessen. Unter dem Druck der „Nürnberger Rassengesetze“musste er die „Justitia“1937 allerdings verkaufen: Für 16 000 Reichsmark ging sie an die Münchner Galerie Heinemann, dann – noch einmal deutlich im Preis auf 25 000 Reichsmark gestiegen – an die Kunsthändlerin Maria-Almas Dietrich.
Sie gehörte zu Hitlers wichtigsten Kunstlieferanten und beschaffte zahlreiche Werke für das in Linz geplante „Führermuseum“. Bendel, der sich im Zuge der Zwangsveräußerungen mit seiner Frau in Wien niedergelassen hatte, wurde im September 1939 nach Buchenwald deportiert und starb dort nur wenige Monate später im März 1940.
Zu Hitlers Prestige-Museum kam es bekanntlich nicht mehr. Offenbar konnte Spitzwegs Gemälde dann nach dem Krieg, als Tausende von Kunstwerke im Münchner „Central Collecting Point“der Alliierten (in der ehemaligen NSDAP-Zentrale) zusammenkamen, nicht zugewiesen werden. Solche quasi herrenlosen Objekte fielen über den Freistaat Bayern schließlich in den Schoß der jungen Bundesrepublik, und seit 1961 durften sich die Bundespräsidenten in der Bonner Villa Hammerschmidt mit der Allegorie der „Gerechtigkeit“einrichten. Beginnend übrigens mit Heinrich Lübke.
Die meisten Präsidenten werden die politische Brisanz der Darstellung gar nicht bemerkt haben. Die dargestellte Skulptur ist im unteren Teil durchgebrochen – Standfestigkeit ist etwas anderes, und die nächste Erschütterung wird die Dame schwerlich überleben. An der Wand hinter ihr ist ein roter Fleck auszumachen, der durchaus für Blut stehen könnte. Auch das Richtschwert hat die Justitia allzu leger geschultert, vor allem aber lugt sie unter ihrer verrutschten Augenbinde hervor. Damit hat sich der Münchner Maler in biedermeierlichen Krisenzeiten erstaunlich viel Staatskritik erlaubt.
Und leider nimmt das auch die rechtswidrige Geschichte der Arbeit voraus. Denn dass Leo Bendel unfreiwillig verkaufen musste, ist nicht das einzige Drama. Das Bild ging tatsächlich erst im Herbst 2019 an die rechtmäßigen Erben. Und das, obwohl die Historikerin Monika Tatzkow bereits 2007 beweisen konnte, dass es sich um ein „NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kunstwerk“handelt.
Der damalige Bundespräsident Horst Köhler hatte sogar schon die Restitutionsurkunde unterschrieben. Aber dann starb die rechtmäßige Erbin, eine Nichte Bendels, und es dauerte unglaubliche zwölf Jahre, bis ihre Nachkommen wiederum alle bürokratischen Hürden genommen hatten. Dabei war es bereits Bendels Ehefrau Else, die gleich nach dem Krieg ihre Ansprüche bei den deutschen Behörden angemeldet hatte. Doch die Ablehnung wurde wie so oft mit fehlenden Belegen begründet.
Dass sich die Erbengemeinschaft von diesem tiefsinnigen Bild trennen wollte, hängt vermutlich auch mit den beträchtlichen Recherche- und Anwaltskosten zusammen. Für 450 000 Euro war der Spitzweg am Mittwochabend aufgerufen, nach wenigen Minuten fiel der Hammer bei 550 000 Euro (hinzu kommt noch das Aufgeld). Das entspricht nicht ganz den Erwartungen, am Ende konnte die nachlässige Justitia dann aber doch noch für späte Gerechtigkeit sorgen.