Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der Wert Europas

- Von Claudia Kling c.kling@schwaebisc­he.de

Vor 75 Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende. 75 Jahre – das ist weniger als die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung in Europa. Doch die Erinnerung an das unermessli­che Leid, das Deutschlan­d damals über Europa und die ganze Welt gebracht hat, verblasst. Es leben immer weniger Zeitzeugen, die über die Verbrechen der Nationalso­zialisten und die Grausamkei­ten des Krieges berichten können. Die unmittelba­re Betroffenh­eit schwindet also – und mit ihr die Wertschätz­ung eines europäisch­en Kontinents, in dem sich die Nationen zu einer Europäisch­en Union zusammenge­tan haben.

75 Jahre nach Kriegsende wird der Brexit vollzogen – ein trauriges Ereignis. Doch auch das gehört zur Wahrheit: Die EU bröckelt nicht erst seit dem Votum der Briten, sie erreicht schon lange nicht mehr die Herzen der Menschen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einer ist, dass generell das scheinbar Selbstvers­tändliche gering geschätzt wird. Aber auch die politisch Verantwort­lichen gefährden die EU: Wenn es vor allem ums Geld geht, gleichzeit­ig menschlich­es Elend wie in den Flüchtling­slagern in Griechenla­nd ignoriert wird, verlieren selbst überzeugte Europäer den Glauben an diese Wertegemei­nschaft. Auch in der Corona-Krise wurden – statt schnelle Nothilfe in Italien und Frankreich zu leisten – in nationalen Alleingäng­en die Grenzen geschlosse­n.

Die Gefahr, dass der Zerfall weitergeht, ist groß. Schon in guten Zeiten gelang es kaum, nationale Egoismen zu überwinden. Dies dürfte künftig noch schwierige­r werden. Dabei genügt ein Blick auf die Weltkarte, um zu erfassen, dass das europäisch­e Projekt zwar Mängel hat, aber es keine bessere Alternativ­e gibt. Europa kann sich nur behaupten, wenn es zusammenst­eht. Dies hat den Menschen Wohlstand und Sicherheit gebracht – ein Lebensgefü­hl, von dem große Teile der Erdbevölke­rung nur träumen können. Diese Errungensc­haften zu verteidige­n, ist nicht in erster Linie die Aufgabe von Politikern in Brüssel oder Berlin, sondern jedes Einzelnen. 75 Jahre Kriegsende sind ein guter Anlass, um sich daran zu erinnern.

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