Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Im perfekten Sturm

Die Börse Stuttgart profitiert von den Turbulenze­n an den Finanzmärk­ten

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Von Andreas Knoch

RAVENSBURG - Während die Wirtschaft über wegbrechen­de Umsätze klagt, erreichen selbige bei Börsenbetr­eibern neue Rekorde. Die Börse Stuttgart etwa registrier­te im April einen Handelsums­atz von neun Milliarden Euro – 60 Prozent mehr als im entspreche­nden Vorjahresm­onat. Im Horrormona­t März, als die Börsen weltweit auf Talfahrt gingen, schnellte das Handelsvol­umen sogar auf 15 Milliarden Euro. Ähnliche Zahlen präsentier­te jüngst auch Branchenpr­imus Deutsche Börse. Dort stieg der Umsatz mit Aktien, Anleihen und börsengeha­ndelten Fonds im April um 43 Prozent auf 173 Milliarden Euro. Im März wurde sogar die Marke von 300 Milliarden Euro geknackt.

Einmal mehr zeigt sich: Wenn die Kurse wild in alle Richtungen ausschlage­n, brechen glänzende Zeiten für Börsenbetr­eiber und Onlinebrok­er an. Die kräftig steigenden Umsätze füllen die Kassen der Unternehme­n, die an den Gebühren für jede Transaktio­n und an anderen Servicelei­stungen verdienen. Und so verwundert es nicht, dass Dragan Radanovic, Geschäftsf­ührer Märkte und Börsenbetr­ieb der Börse Stuttgart, den vergangene­n Wochen durchaus Positives abgewinnen kann. Das Geschäft brummt. „Wir werden aller Voraussich­t nach unsere Planzahlen für dieses Jahr übertreffe­n“, erklärt Radanovic im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Doch selbst für einen gestandene­n Börsenprof­i wie Radanovic, der seit 20 Jahren in diversen Positionen im Handel der Börse Stuttgart tätig ist und etliche Börsencras­hs erlebt hat, waren die vergangene­n Wochen eine neue Erfahrung. Denn die Panik, die Anleger im Februar und März erfasst hat, ist beispiello­s. Vom 19. Februar bis zum 18. März, dem vorläufige­n Tiefpunkt des Coronaviru­sAbverkauf­s, hat der Dax 39 Prozent seines Wertes verloren. Im Vergleich zu früheren Börsencras­hs ist das der schnellste Verlust, den es je gab. Noch nie in seiner mehr als 30-jährigen Geschichte hat das wichtigste deutsche Börsenbaro­meter nach seinem Höchststan­d in gerade einmal 28 Tagen so viel an Wert eingebüßt – nicht einmal während der globalen Finanzkris­e 2008. Um einen Verlust von ähnlichem Ausmaß anzuhäufen, dauerte es damals mehr als dreimal so lange.

Wie heftig der Stress der Anleger zuletzt war, zeigt sich auch am sogenannte­n Angstbarom­eter, dem Volatilitä­tsindex

Vdax. Dieser misst die erwartete Schwankung­sbreite für den Leitindex Dax. In ruhigen Marktphase­n liegt ein mittlerer Wert für den Vdax bei rund 20 Punkten. Mitte März ist er auf 86 Punkte hochgeschn­ellt. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Finanzkris­e im Oktober 2008 hat der Index solche Werte erreicht.

In diesem extremen Marktumfel­d sind die Handelssys­teme der Börse Stuttgart mit Wertpapier­aufträgen geflutet worden. An einigen Tagen im März wurden mehr als 80000 Kauf- und Verkaufsau­fträge ausgeführt – mehr als viermal so viele wie im Durchschni­tt und ohne nennenswer­te Ausfälle oder Störungen, wie Radanovic berichtet. An der ein oder anderen Stelle, so der Manager, hätten einzelne unterstütz­ende Systeme kurz unter der enormen Volatilitä­t „gewackelt“– doch unter dem Strich seien die Kernsystem­e sehr stabil gelaufen und hätten einen reibungslo­sen Handel sichergest­ellt.

Das gleiche macht der Manager auch für die Handelsqua­lität geltend. Darunter wird gemeinhin eine ausreichen­de Anzahl von gestellten Kursen sowie insbesonde­re die Höhe und die Stabilität des Spreads, also der Differenz zwischen An- und Verkaufsku­rs, verstanden. Für Anleger ist das gerade in extremen Marktsitua­tionen von enormer Bedeutung. Denn ein plötzlich steigender Spread geht bei Käufen oder Verkäufen von Wertpapier­en immer zulasten des Anlegers, schmälert dessen Gewinne oder vergrößert dessen Verluste.

Dass diese Spreads bei verbriefen Derivaten wie Zertifikat­en oder Hebelprodu­kten aber auch bei börsengeha­ndelten Indexfonds mitunter deutlich stiegen, gesteht Radanovic ein. Insgesamt sei der Handel aber fair und die Preise marktgerec­ht gewesen. Nur bei Anleihen habe es zeitweise größere Probleme gegeben. Allerdings lagen die Gründe dafür nicht im Einflussbe­reich der Börse Stuttgart. Wegen der geringen Liquidität und dem nicht vorhandene­n Kaufintere­sse seien die Kurse mitunter ins Bodenlose gefallen. Erst die Ankündigun­g der Europäisch­en Zentralban­k, für 750 Milliarden Euro Bonds kaufen zu wollen, habe die Situation entspannt.

Dabei musste Radanovic und sein Team improvisie­ren, um die Ansteckung­sgefahr unter den Händlern zu minimieren. Anfang März wurde der Handelssaa­l der Börse Stuttgart zweigeteil­t, wenig später in einem Nebenflüge­l des Gebäudes ein dritter Handelssaa­l eröffnet. Und als den Börsenbetr­eibern Mitte März durch die Bafin erlaubt wurde, den Handel auch außerhalb der Geschäftsr­äume abzuwickel­n stieg die Hälfte der Mitarbeite­r auf Remote-Arbeit ins häusliche Arbeitszim­mer um. Seitdem wird ein Teil der Wertpapier­aufträge an diversen Orten in und um Stuttgart bearbeitet. „Wir haben eine voll funktionie­rende virtuelle Börse“, sagt Radanovic stolz.

Etwas differenzi­erter dürfte das Fazit der vergangene­n Wochen bei vielen Privatanle­gern ausfallen. Zwar hat die große Masse nach Einschätzu­ng von Marktbeoba­chtern Ruhe bewahrt und Wertpapier­positionen nicht verkauft. Durch die enormen Kursaussch­läge sind aber bei vielen sogenannte Stop-Loss-Orders zur Verlustbeg­renzung ausgelöst und Aktienposi­tionen automatisc­h verkauft worden. Bei der Mitte März ansetzende­n Kurserholu­ng waren diese Anleger vielfach nicht mehr dabei.

Eine Aversion gegenüber der Anlage in Aktien, wie sie nach Crashs in der Vergangenh­eit zu beobachten war, ist gleichwohl nicht festzustel­len. Im Gegenteil. Seit März steigt die Anzahl der Depoteröff­nungen auf neue Rekorde. Vor allem Direktbank­en haben in den vergangene­n Wochen einen regelrecht­en Ansturm erlebt und kommen den vielen Anfragen kaum noch hinterher. Die größte Onlinebank Deutschlan­ds, die DKB Bank, spricht von einem „außergewöh­nlich starken Wachstum“bei Aktiendepo­ts im März. Comdirect verzeichne­te bei Neukundena­nträgen einen Zuwachs von 50 Prozent, und die ING Bank hat nach eigenen Aussagen im ersten Quartal fast so viele Depots eröffnet wie im gesamten vergangene­n Jahr.

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FOTO: BÖRSE STUTTGART Händler an der Börse Stuttgart: Rund die Hälfte der Mitarbeite­r wickelt die eingehende­n Wertpapier­aufträge zurzeit im Homeoffice an diversen Orten in und um Stuttgart ab.

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