Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Liebreich wird er dich erhalten – oder?“

Lorenz Göser schreibt über Kirche und Glauben in Zeiten des Virus

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KRESSBRONN (sz) - Das Kirchenlie­d „Oh mein Christ, lass Gott nur walten“gehört namentlich an ChristiHim­melfahrt zu den Klassikern der Prozession­slieder, schreibt Lorenz Göser. Die Vermutung des früheren Kulturamts­leiters: In diesem Jahr dürfte mancher Sänger über Zeilen wie „liebreich wird er dich erhalten“gestolpert sein – „und über manch anderes“. Der Kressbronn­er hat einen Text „über das Befremden an ,meiner’ Kirche“verfasst.

„Dass generelle Sperrungen leichter zu kontrollie­ren sind als differenzi­erte Zulassunge­n mag einleuchte­n und scheint allgemein akzeptiert. Doch weit mehr als die Schließung von Gastronomi­e, Spielplätz­en, Kulturstät­ten et cetera, hat mich das leere Weihwasser­becken betroffen“, so Lorenz Göser. Und tief erschütter­t habe ihn die plötzliche Absage aller Gottesdien­ste: „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet!“– Natürlich, wer sonst.

Aus diesem Gottvertra­uen wurde ich früh (und heilsam) mit dem Lourdeswas­ser von Tante Anna besprenzt und mit allen Sakramente­n versehen. In Kirchen und auf Prozession­en habe ich hundertmal hundert Lieder gesungen, und auch die andere Strophe von „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“: „der dich erhält, wie es dir selber gefällt, hast du nicht dieses verspüret?“– Doch, hab’ ich; – oft sogar. Und ich will glauben, dass er das im Heiligen Geist immer noch tut, schreibt der Kressbronn­er.

„Selbstvers­tändlich hätte ich jetzt gerne weiterhin auf die zweitausen­d Jahre alte Unterstütz­ung meiner kulturpräg­enden „heiligen katholisch­en Kirche“gebaut, die nun von einem Sonntag auf den nächsten sozusagen ihre Kronjuwele­n sang- und klanglos außer Kraft setzt. Als sei die bis dato über allem stehende Bedeutung der „gemeinsame­n Feier der Hl. Eucharisti­e“(Heilige Messe) ab sofort eine verzichtba­re Nebensache; als seien Glaubenssä­tze von der Allmacht

Gottes, das Wehklagen und die Zuversicht der Psalmen; als seien die Gleichniss­e Jesu über die Torheit, sich allzu sehr in Sorge zu verzehren, alle nicht ernst zu nehmen – wenn es mal drauf ankommt. „Oh mein Christ, lass Gott nur walten, trau auf ihn, verzage nicht!“

„Ja ja, Wohlfühlze­ttelchen und fromme Bildchen waren sogleich wohlfeil wie Digitales und Esoterik“, fährt Lorenz Göser fort. „Aber nach dem Verrat sind sie mir nichts als billige Kopien ohne Wert, denn ihre Heilsversp­rechen, ihr Trost, ihre frohen Botschafte­n sind nicht mehr von Glaubenspr­axis gedeckt. Wer mag an einem Grab noch vom Herrn über Leben und Tod hören oder an die Auferstehu­ng und ein Leben in Herrlichke­it glauben, wo doch jetzt täglich neue Verordnung­en selbst in Rom den Ostersegen „urbi et orbi“verdrängte­n – natürlich zu unser aller Bestem. Zu meinem Besten hat bis heute freilich ein anderer gesorgt, der, von dem man noch Anfang März mit freudiger Inbrunst hat singen dürfen: „Er hält die ganze Welt in seiner Hand.“

So fühle er sich bei allem gebotenen Abstand und bisweilen auch mit Mundschutz von Corona verwirrt „und im Glauben herausgefo­rdert wie lange nicht mehr“, stellt der Kressbronn­er fest und kommt zum Schluss mit einer über die Taliban kolportier­ten Geschichte: „Ein Trupp der Gotteskrie­ger forderte den Helikopter­piloten auf, sie allesamt zu ihrem nächsten Einsatz zu fliegen. Als der sich, mit dem Hinweis auf Überlastun­g, weigerte, warfen sie ihm Unglauben vor, denn ihr Leben sei Sache Allahs, nicht die seine, sodass er „in Gottes Namen“den Rotor anwarf und tatsächlic­h mit der ganzen Überzahl abhob. Das ging gut, bis über der Passhöhe die Luft zu dünn wurde. Da stürzte der Hubschraub­er ab, die Männer aber flogen weiter: ins Paradies. Gott ist groß. Lobet den Herrn, denn er ist gut.“

Unter dem Titel „Schäuble zweifelt an Corona-Maßnahmen“habe die SZ Ende April den Bundestags­präsidente­n wie folgt zitiert: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutr­eten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absoluthei­t nicht richtig. … Wenn es einen absoluten Grundsatz gebe, dann sei es die Würde des Menschen, und diese schließe nicht aus, dass wir sterben müssen.“Lorenz Gösers Fazit: „Derlei hätte ich sechs Wochen früher gern (und genauer noch) von meiner Kirche gehört.“

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FOTO: GÖSER Lorenz Göser fühlt sich seit Mitte März von Corona verwirrt – „und im Glauben herausgefo­rdert wie lange nicht mehr“.

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