Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Umgeschrie­benes Leben

Die Wunschbiog­rafie als Überwältig­ung der Vergangenh­eit

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Die Kritik an der literarisc­hen Sprache der ersten Nachkriegs­jahre setzt früh ein. Günter Grass hatte 1959 dem damals 20-jährigen Klaus Völker, der später als Dramaturg und Rektor der Berliner Schauspiel­schule Ernst Busch bekannt wurde, eine Einladung zum Treffen der Gruppe 47 in Elmau verschafft. Völker fiel bei den Lesungen prompt die „Sprache der Landserhef­te“auf. Ähnliches beschreibt der Basler Schriftste­ller Urs Widmer 1966 in seiner Doktorarbe­it: „1945 oder die ‚Neue Sprache’“. Er analysiert die Zeitschrif­t „Der Ruf“und entdeckt in der „Prosa der ‚Jungen Generation’“die Durchhalte­parolen des Nationalso­zialismus, statt der sprachlich­en „Revolution“des Realismus. Solche Kritik blieb noch ohne Breitenwir­kung.

So hat die Hochachtun­g für die Gruppe 47 lange gehalten, länger als die Gruppe selbst (bis 1967). Und sie zeigte sich noch in aller Präsenz, als der Autor W. G. Sebald 1999 Alfred Andersch nicht nur stilistisc­h, sondern auch persönlich angriff. Die Kritik hat ihm selber mehr geschadet als Andersch. Aber dazu geführt, dass auch die Gruppe 47 heute differenzi­erter bewertet wird.

Die eigenen Bücher Sebalds (1944-2001) umkreisen, was wir Erinnerung­skultur nennen. Er hatte Deutschlan­d und seinem Geburtsort Wertach im Schatten der „Ordensburg“Sonthofen früh den Rücken gekehrt und lebte als Literat und Dozent in Norfolk. In England und auch in den USA erfuhr er mehr Wertschätz­ung als in Deutschlan­d.

Dass Sebald mit seinem Urteil über Andersch richtiglag, hat die aufwendige Recherche von Historiker­n und Literaturw­issenschaf­tlern bestätigt, die dessen literarisc­he Selbstbesc­hreibungen mit militärges­chichtlich­en Quellen verglichen haben. Der Band, der 2015 unter dem Titel: „Alfred Andersch desertiert“erschienen ist, kommt zu der Einschätzu­ng, dass „sich nicht mit letzter Entschiede­nheit klären“lässt, ob Andersch desertiert oder auf der Suche nach seiner Einheit in Gefangensc­haft geraten ist. Jedenfalls berichtet Andersch in seinem Buch „Die Kirschen der Freiheit“1952 von seiner Fahnenfluc­ht. Es war sein Durchbruch als Schriftste­ller und etablierte sein Image als Nonkonform­ist. Das Buch wies er als „Bericht“aus, mithin als „erlebte Wirklichke­it“.

Er wollte damit Hans Werner Richter übertrumpf­en. Der war 1949 mit seinem Roman „Die Geschlagen­en“berühmt geworden, der gleich in neun Sprachen übersetzt wurde. Richter erzählt die Geschichte seines Kriegsende­s: vom Stellungsk­rieg gegen die Amerikaner in Italien, am Monte Cassino. Der Roman streift das Thema Fahnenfluc­ht nur kurz. Richter entwickelt vielmehr ein Motiv der Ausweglosi­gkeit, das als „Landser-Schicksal“bezeichnet wurde: voraus der Feind, im Rücken der Feldgendar­m, der Deserteure aufspürt. Und dann halten die Amerikaner in der Gefangensc­haft alle für Nazis. Dem „Angeschiss­en-Sein“ist nicht zu entkommen.

Andersch hingegen präsentier­t sich als Deserteur aus bewusster Entscheidu­ng für ein Leben in Freiheit. Er wertet die Flucht heroisch auf und vergleicht sie mit dem Stauffenbe­rg-Attentat auf Hitler, das einen Monat später erfolgte: „Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt.“Von Richters Gruppenper­spektive grenzt er sich ab: „Die sogenannte­n Kameraden, sie kotzten mich regelrecht an.“Die Untersuchu­ng der Militärakt­en ergibt ein anderes Bild. Ein fahnenflüc­htiger Alfred Andersch ist auf keiner Seite registrier­t. Aber eine gemeinsame Flucht von 17 Soldaten seiner sich ohnehin auflösende­n Einheit an besagtem 6. Juni 1944.

Seine Armeezeit hatte Andersch ohne Feld- und Fronteinsa­tz verbracht: „Ein Mann der Etappe“, schreibt Sebald. Im Mai 1944 ist er dann im letzten Aufgebot einer Radfahrer-Einheit von Deutschlan­d nach Italien unterwegs. Die deutschen Truppen, deren Rückzug sie absichern soll, kommen schon entgegen. 25 Kilometer vor Rom findet der Krieg für Alfred Andersch ein kampfloses Ende.

Im Artikel „Deutsche Jugend wohin?“, der in den USA erschienen ist, beschreibt Andersch die Geschichte der Generation, in die er sich einreiht, dann so: „Wer ist diese Jugend eigentlich? Es ist die Jugend, die durch die Schlachten von Stalingrad, El Alamein und Cassino gegangen ist.“Hans Werner Richter wusste, worüber er schrieb. Er wurde von den Amerikaner­n in Monte Cassino gefangen genommen.

In den Sechzigern, zur Zeit des Auschwitz-Prozesses, ist der Gruppe 47 vorgeworfe­n worden, nichts über Konzentrat­ionslager geschriebe­n zu haben. Sebald reklamiert­e 1999 ein weiteres Desiderat: Auch die Zerstörung der Städte im Luftkrieg sei, bis auf Ausnahmen, kein Thema gewesen. Er warf dem Dichterkre­is Selbstbezü­glichkeit vor. Dafür ist Alfred Andersch sein Exempel. Die Geschichte der Fahnenfluc­ht in den „Kirschen der Freiheit“las Sebald als Wunschbiog­rafie eines Opportunis­ten.

Damit war Andersch ein Muster-, aber kein Einzelfall. Das zeigte sich 2006, als Günter Grass einräumte, Mitglied einer SS-Panzerdivi­sion gewesen zu sein. Grass war der Durchbruch als Schriftste­ller 1958 mit seiner „Blechtromm­el“-Lesung vor der Gruppe 47 in Großholzle­ute bei Isny gelungen. Sie brachte ihm auch das Image des jungen Wilden ein. Er hatte mit seinem Roman das Realismus-Konzept weiterentw­ickelt und in viele Perspektiv­en und Spracheben­en aufgefäche­rt. Sein zwergwüchs­iger Held steht für den moralische­n Anspruch, die Erinnerung wach zu trommeln. Grass selber zog sich auf ein strategisc­hes Schweigen zurück. Seinem späten, von „nachgewach­sener Scham“getriebene­n Eingeständ­nis fügte er hinzu, ihn treffe keine „tätige Mitschuld“. Denn als Ladeschütz­e im Panzer habe er nicht gezielt, nur nachgelade­n.

Die geschönte Biografie, die umgeschrie­bene Vergangenh­eit ist ein Phänomen, das Sebald mit Spürsinn verfolgte. Es gehört nicht zur Gruppe 47 allein. Es weist über die Literatur hinaus. Und reicht bis in die Gegenwart.

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FOTO: ROLAND RASEMANN Martin Walser las 1953 zum ersten Mal bei dem Schriftste­llertreffe­n in Mainz und erhielt 1955 den Preis der Gruppe 47.
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FOTO: ZDF/ORF HEINZ BACHMANN Ingeborg Bachmann wurde als „Fräuleinwu­nder der deutschspr­achigen Literatur“gefeiert.
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FOTO: DPA Alfred Andersch in Mailand: Er gab sich gern weltläufig.

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