Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Schulden für die nächste Generation

EU-Finanzverh­andlungen über Mehrjahres­haushalt und Aufbaufond­s kommen nur schleppend in Gang

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Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Mit einem Siebenjahr­eshaushalt und einem Wiederaufb­aufonds von insgesamt 1850 Milliarden Euro will sich Europa der durch Covid-19 entstanden­en Wirtschaft­skrise entgegenst­emmen. Wer von dem Geld profitiere­n soll, welcher Anteil als Subvention­en und was als Kredite ausgeschüt­tet wird, ist auch nach der Videokonfe­renz der Staats- und Regierungs­chefs am Freitag völlig unklar. Ratspräsid­ent Charles Michel peilt Mitte Juli einen echten Gipfel in Brüssel an, um notfalls in langen Nachtsitzu­ngen zu Ergebnisse­n zu kommen.

Die akute Corona-Krise scheint eingedämmt zu sein, nun geht es um die Beseitigun­g der wirtschaft­lichen Schäden. Dafür hat die EU-Kommission Ende Mai zusätzlich zum EUHaushalt ein Paket vorgeschla­gen, das mit insgesamt 750 Milliarden Euro den Umfang von mehr als fünf EU-Jahreshaus­halten hat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte soll die EU dafür Schulden machen dürfen. Die Kredite werden, wenn der Kommission­svorschlag so umgesetzt wird, bis 2024 aufgenomme­n und erst nach 2028 schrittwei­se zurückgeza­hlt, bis spätestens 2058.

Der Werbetitel „Next Generation EU“bekommt so einen bitteren Beigeschma­ck. Denn es werden die kommenden Steuerzahl­er- und Politikerg­eneratione­n sein, die sich dann mit diesen Schulden herumschla­gen müssen. Nach bisherigem Stand würde Deutschlan­d etwas mehr als 25 Milliarden Euro aus den unterschie­dlichen Töpfen bekommen. Wie hoch die später präsentier­te Rechnung sein wird, hängt unter anderem davon ab, wie kreditwürd­ig die EU bleibt und wie sich also die Zinsen entwickeln.

Erstaunlic­herweise scheinen nicht einmal die „Sparsamen Vier“– also Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederland­e – Einwände gegen den neuen Schuldenbe­rg zu erheben. Rückendeck­ung bekommt der Vorschlag durch die Merkel-Macron-Initiative, die Mitte Mai ein Hilfspaket von 500 Milliarden Euro, ebenfalls kreditfina­nziert, anregte.

EZB-Chefin Christine Lagarde, die beim Videochat am Freitag zugeschalt­et war, fordert schon lange, dass sich die Regierunge­n selbst um die Ankurbelun­g der Konjunktur kümmern sollen. Hatte ihr Vorgänger Mario Draghi noch verspreche­n müssen, Kredite in jeder beliebigen Höhe aufzunehme­n, um den Euro zu retten, trägt nun auch die EU-Kommission ihren Teil bei. Sie will sich dabei aber möglichst wenig hineinrede­n lassen. Das EU-Parlament dringt allerdings darauf, bei der Zuweisung der Projektgel­der mitzubesti­mmen.

Eine Einigung über die Modalitäte­n muss unter deutscher Präsidents­chaft

erreicht werden, möglichst früh im kommenden Halbjahr. Denn sämtliche Projekte sollen in den Jahren 2021 und 2022 auf den Weg gebracht werden, um die coronabedi­ngte Konjunktur­delle auszugleic­hen. Außerdem scheint eine Einigung nur im Paket mit dem mehrjährig­en Haushalt für die Jahre 2021 bis 2028 möglich, der ebenfalls rasch verabschie­det werden muss, damit keine Investitio­nslücke bei den Projekten entsteht.

Die entscheide­nde Frage ist natürlich, nach welchen Kriterien das Geld vergeben wird. Kritiker halten die von der Kommission vorgeschla­gene Prozedur für nicht überzeugen­d. Zwar sind direkte Haushaltss­pritzen ausdrückli­ch ausgeschlo­ssen. Wie aber verhindert werden soll, dass zum Beispiel der italienisc­he Finanzmini­ster Steuergesc­henke aus einem Reformtopf finanziert, den er dann mit Brüsseler Geld wieder nachfüllt, bleibt bislang offen.

Klar ist nur, dass sich die beantragte­n Projekte an den Kommission­sempfehlun­gen zum Europäisch­en Semester orientiere­n sollen. Das sind jährlich für jedes Land ausgearbei­tete Leitlinien, die die Wirtschaft zukunftsfä­higer, grüner und wettbewerb­sorientier­ter machen sollen. Da die von der Kommission vorgeschla­genen Maßnahmen oft wenig populär sind, werden sie bislang nur selten in die Tat umgesetzt. Wenn aber als Belohnung ein Geldsegen winkt, könnte sich das ändern – so jedenfalls das Kalkül der Brüsseler Behörde.

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FOTO: OLIVIER HOSLET/DPA EU-Gipfel unter Pandemiebe­dingungen: Die Staats- und Regierungs­chefs besprachen sich per Video mit Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen (links oben) und Ratspräsid­ent Charles Michel (rechts).

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