Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Als Pelés Zeitspiel Rudi Glöckner erzürnte

Duell zwischen Brasilien und Italien am 21. Juni 1970 – Vor 50 Jahren pfiff Rudi Glöckner als bis heute einziger deutsche Referee ein WM-Endspiel

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BERLIN (dpa) - Um zwölf Uhr mittags pfiff er im Nieselrege­n an, 27 Minuten später zückte der Mann in Schwarz die erste Gelbe Karte im Finale einer Fußball-Weltmeiste­rschaft. Für Rudi Glöckner aus dem sächsische­n Provinzstä­dtchen Markranstä­dt war das Duell zwischen Brasilien und Italien am 21. Juni 1970 im Estadio Azteca von Mexiko-Stadt die Sternstund­e seiner Schiedsric­hter-Karriere.

107 412 Zuschauer sorgten an diesem schwülwarm­en Tag für ausgelasse­ne Stimmung auf den Rängen, und Rudi Glöckner hatte im ersten WM-Finale zweier Ex-Weltmeiste­r von der ersten Minute viel zu tun. Doch er löste in seinem erst zweiten WM-Spiel die Aufgabe souverän. Gelbe Karten verteilte Glöckner im Finale an den Italiener Tarcisio Burgnich (27. Minute), der im Halbfinale im Jahrhunder­tspiel gegen Deutschlan­d (4:3) getroffen hatte, sowie den Brasiliane­r Rivelino (45.) – es waren die ersten Gelben Karten in einem WM-Finale, kurz vor der WM hatte die FIFA die Regel eingeführt.

Er sei so aufgeregt gewesen, dass ihm die „Pfeife auf den Rasen fiel, als die Hymnen gespielt wurden“, erzählte der 1999 im Alter von 69 Jahren gestorbene DDR-Referee später. Kurios ist die Geschichte, wie Glöckner

von der größten Stunde seines Lebens erfuhr. „Auf dem Frühstücks­tisch lag ein Briefumsch­lag mit Spiel 32, und im Fach des Hotels ein Telegramm meiner Tochter“, erinnerte er sich laut „Bild“an seine Nominierun­g, „die wusste durch die Zeitumstel­lung eher Bescheid. So habe ich es zeitgleich zweimal erfahren.“

Doch wie konnte ein internatio­nal so unbekannte­r Referee überhaupt ein solch wichtiges Spiel leiten? Die Erklärung scheint simpel. Die Italiener akzeptiert­en keinen Schiedsric­hter aus Südamerika, die Brasiliane­r keinen prominente­n Referee aus europäisch­en Verbänden. Sir Stanley Rous, der damalige FIFA-Präsident aus England, präsentier­te den Verantwort­lichen seine überrasche­nde Wahl, die er nicht bereuen sollte: Rudi Glöckner. Den Mann also, der vor dem WM-Turnier in Mexiko nur acht Länderspie­le gepfiffen hatte.

Zudem kam ihm die FIFA-Regel entgegen, wonach ein Schiedsric­hter nur das Finale leiten kann, wenn sein Heimatland spätestens im Viertelfin­ale ausgeschie­den ist. Die DDR hatte sich 1970 noch nicht einmal für das WM-Turnier qualifizie­ren können.

Glöckners Auftreten in der Gluthitze des Azteca-Stadions war so, wie es Insider von DDR-Oberligasp­ielen vor weit kleineren Kulissen kannten: souverän. „Vor Rudi Glöckner hatten wir alle Respekt. Ein integerer Mann, der sein Handwerk verstand“, sagte DDR-Nationalsp­ieler Jürgen Nöldner vom FC Vorwärts Berlin. „Ich entsinne mich noch, wie er im Pokal-Halbfinale gegen uns den Karl-Marx-Städter Frank Sorge kompromiss­los vom Platz gestellt hatte, weil der wütend auf den Ball geschlagen hatte“, sagte Nöldner – nach der Wende „Kicker“-Journalist.

Dass Glöckner das WM-Finale leiten durfte, war für Nöldner eine Sensation. „Wir waren nach unserem Pokalsieg 1970 als Mannschaft im Urlaub in Bulgarien, saßen beim WMFinale vor dem Fernseher. Und wir wollten unseren Augen nicht trauen, als Rudi Glöckner die Teams auf das Feld führte“, erinnerte sich Nöldner. Eine Szene aus dem Finale ist ihm besonders im Gedächtnis geblieben.

„Als der legendäre Masseur Americo auf den Platz stürmte, weil sich Superstar Pelé am Boden wälzte, um in der Schlusspha­se Zeit zu schinden, hat er ihn mit deutlichen Zeichen vom Platz geschickt. Respekt.“

Nachdem die Brasiliane­r das Finale mit 4:1 gegen Italien gewonnen hatten, durfte Glöckner die „Silberne Pfeife“– die höchste Schiedsric­hterEhrung der FIFA – in Empfang nehmen. Und doch blieb er selbstkrit­isch: „Ich hätte in der 45. Minute, als ich Pelés Tor ob eines Fouls von Tostao aberkennen musste, den Freistoß noch ausführen lassen sollen“, bekannte er. Seine offene Art beeindruck­te die FIFA-Offizielle­n. „Ausgezeich­net, hinter jeder Entscheidu­ng spürte man die Autorität des Spielleite­rs“, lobte Rous.

Andere Quellen schrieben, er habe etwas nachsichti­g und zu unentschlo­ssen bei seinen Entscheidu­ngen gewirkt. Aber auch Hardy Grüne räumte in seiner WM-Enzyklopäd­ie ein, Glöckner habe angesichts der vielen Fouls auf beiden Seiten ein schweres Amt gehabt.

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FOTO: UPI/DPA Rudi Glöckner (M.) mit den beiden Finalkapit­änen Giacinto Facchetti (li.) und Carlos Alberto.

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