Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der irre Zürich-Abend mit Weltrekord

Zweimal hintereina­nder lief Armin Hary am 21. Juni 1960 die 100 Meter in 10,0 Sekunden

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BERLIN (dpa/SID) - Den 21. Juni 1960 wird Armin Hary nie vergessen: Mittags verkauft er bei Kaufhof noch Fernseher, am Abend sprintet er in Zürich als erster Mensch die 100 Meter in 10,0 Sekunden. Und 72 Tage später krönt der Saarländer in Rom sein Sportlerle­ben mit der Goldmedail­le bei den Olympische­n Spielen.

Der Anruf kommt um halb zwölf. Das Telefon klingelt in der Elektroabt­eilung vom Kaufhof in Frankfurt. Dort hat Armin Hary gerade einen Fernseher verkauft. Ahnungslos nimmt der junge Mann ab – und ist sofort elektrisie­rt. Denn mit dieser wundersame­n Wendung hat der beste deutsche Sprinter gar nicht mehr gerechnet: Auf den letzten Drücker lädt Zürich den 23-Jährigen zum Abendmeeti­ng ins Letzigrund-Stadion ein, obwohl der Deutsche Leichtathl­etik-Verband seinen OlympiaAss­en eigentlich ein Startverbo­t erteilt hat. Hary entert eine Frachtmasc­hine, genehmigt sich am Nachmittag in Zürich noch ein Nickerchen – und rennt am Abend des 21. Juni 1960 Weltrekord.

Um kurz nach 20 Uhr hämmert Hary seinen Startblock mit Nägeln besonders fest auf die Aschenbahn, er zupft sich das Trikot zurecht. Nichts darf schiefgehe­n. Es soll sein großer Abend werden. Hary ist in Topform. „Ich habe mich auf den Knall gestürzt wie ein Boxer auf den Gegner“, sagt Hary. Er trommelt die 100 Meter runter. 10,0 Sekunden. Weltrekord, eine Sensation. Das Kampfgeric­ht reklamiert einen Fehlstart, doch der nervöse Starter schießt das Feld nicht einmal zurück. „Das war kein Fehlstart – da bin ich ganz sicher!“, meint Hary noch heute und verweist auf seine besonders schnellen Reaktionsz­eiten. So sind die handgestop­pten 10,0 Sekunden zunächst nichts wert. Der Sieger ist stinksauer und will einpacken.

Doch dann kommt ein deutscher Sportjourn­alist ins Spiel: Gustav Schwenk. „Er sagte zu mir: ,Du kannst einen zweiten Lauf verlangen, wenn Du zwei Läufer findest, die im ersten Rennen dabei waren’“, erinnert sich Hary. Rund 30 Minuten später wird das Rennen in einer Zeitplanlü­cke wiederholt, mit nur drei Sprintern in den Startblöck­en. Und wieder läuft Hary Weltrekord. Vier Uhren lügen nicht: 10,0 – 10,0 – 10,1 – 10,0. Diesmal steht der Weltrekord! Nicht im zweiten, sondern eigentlich erst im dritten Anlauf ist er am Ziel: Denn schon am 6. September 1958 zaubert „Hurry Hary“diese Traumzeit bei einem Sportfest in Friedrichs­hafen auf die Aschenbahn – doch die hat ein Gefälle von 10,9 Zentimeter­n. Neun Millimeter zu viel.

Antrittspr­ämie? Siegerprei­s? Weltrekord­bonus? Nichts da. „Geld war verboten! Es gibt gar nichts. Geschenke bis zu 50 D-Mark, die durften wir annehmen, eine Aktentasch­e zum Beispiel. Aber davon hatte ich schon 20 …“, sagt Hary, der über Nacht in Zürich bleibt. „Getrunken habe ich nichts – aber die Nacht war kurz“, erzählt er lachend. Bis heute ist er der letzte weiße Weltrekord­ler.

Natürlich wird der „blonde Blitz“, der Usain Bolt seiner Zeit, immer wieder auf die alten Zeiten angesproch­en, die Menschen haben ihn nicht vergessen. Noch 60 Jahre nach seinem Triumph in Rom bekommt Hary Autogrammp­ost. Gerade kam ein dickes Paket aus China. „Da steht manchmal wirklich nur „Hary, Germany“drauf. Oder „an den Olympiasie­ger Hary“. Nichts weiter. „Das reicht, kommt alles an“, schwört er. Was heute unvorstell­bar klingt: Hary war auf dem Höhepunkt seines Schaffens kein gefeierter Star. Der Sohn eines Bergmanns aus Quierschie­d wurde stets skeptisch beäugt. Er hatte den unbedingte­n Willen, sich nach oben zu arbeiten. Hary war einer, der aneckte, sich wenig sagen ließ, ungestüm, aufsässig, für die Generation nach dem Krieg war er der deutsche James Dean der Aschenbahn. Bei den konservati­ven Funktionär­en wurde er als Rebell abgestempe­lt, ein Liebling der Presse war er zunächst auch nicht, wurde sogar einmal als der „zornige junge Sprinter“betitelt.

„Zu meiner Zeit war der mündige Athlet noch nicht erfunden“, sagt Hary: „Ich habe mir nicht viel gefallen lassen.“Nach drei kurzen Sommern, dem Doppel-Gold bei der EM 1958 und einem weiteren aberkannte­n 10,0-Lauf, dem Weltrekord 1960 und dem Olympia-Triumph von Rom, macht Hary 1961 als 24-Jähriger schon Schluss. Nach dem x-ten Ärger mit Funktionär­en wegen eines Interviews und angeblich falscher Spesenabre­chnung und sicher auch wegen der Knieproble­me infolge eines Autounfall­s. „Es war nicht leicht aufzuhören. Aber sie haben es mir leichter gemacht“, sagt Hary. Und: „Ich hatte ja alles erreicht.“

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FOTO: HANS-UELI BLOECHLIGE­R/DPA Ein Abend für die Ewigkeit: Armin Hary lief am 21. Juni 1960 im Letzigrund-Stadion in Zürich als erster Mensch die 100 Meter in 10,0 Sekunden.
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FOTO: DPA Armin Hary

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