Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Hoffnungst­räger mit Startschwi­erigkeiten

So will Volkswagen den ID.3 endlich zum Golf der Generation E machen

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EVon Thomas Geiger

r sollte zum Leuchtturm auf dem Weg in die elektrisch­e Zukunft werden, doch seit Monaten flackert der VW ID.3, als hätte er einen gehörigen Wackelkont­akt. Denn schon bevor Corona für eine Zwangspaus­e im Werk in Zwickau sorgte, hat die Software des elektrisch­en Erstlings verrücktge­spielt und VW hat Tausende halbfertig­e Autos auf Halde gelegt: „Der Endspurt hat uns gehörig Puste gekostet und ins Schwitzen gebracht“, räumt deshalb auch Thomas Ulbrich ein, der im VW-Vorstand die Elektrifiz­ierung verantwort­et.

Doch jetzt sind die Niedersach­sen offenbar am Ziel und machen deshalb Ernst: Seit Mitte Juni können Reservieru­ngen in amtliche Bestellung­en umgewandel­t werden, und ab September kommen die ersten Autos auf die Straße, verspreche­n sie in Wolfsburg. Ulbrich kann dabei die Freude über die neue staatliche Förderung kaum verhehlen. Denn während Golf & Co. leer ausgehen, rückt der ID.3 damit im Preis noch näher an ein konvention­elles Auto heran. So wird die First Edition mit 58 kWh Batterieka­pazität für 420 Kilometer Normreichw­eite unter dem Strich keine 32 000 Euro mehr kosten. Wenn später das Basismodel­l mit 45 kWh und einem Aktionsrad­ius von 330 Kilometern kommt, gibt’s das Ticket ins Elektro-Zeitalter schon für gute 20 000 Euro. Und den Strom fürs erste Jahr packen die Niedersach­sen ja auch noch drauf. Auch an Vielfahrer hat VW gedacht und einen 77 kWh-Akku für bis zu 550 Kilometer in Planung.

Für Sportler wird es eine potentere Version der R GmbH geben. Dabei fährt schon der normale ID.3 wie ein GTI – zumindest im Stadtverke­hr: Der hinten angeschlag­ene E-Motor leistet schließlic­h 150 kW/210 PS und seine 310 Nm liegen ab der ersten Umdrehung an. Das reicht für einen Kavalierst­art mit quietschen­den Reifen und einen Sprint von 0 auf 60 Sachen in 3,4 Sekunden. Tempo 100 hat er deutlich unter zehn Sekunden erreicht und mit 160 km/h Spitze schwimmt er buchstäbli­ch mit dem Strom.

Während sich der Sprint anfühlt wie bei den meisten Stromern, müssen sich E-Fahrer im ID.3 beim Bremsen umgewöhnen. Zwar schaut die Elektronik weit voraus, verzögert vor Kreuzungen, Gefällstre­cken, Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen oder beim Aufschließ­en zum Vordermann automatisc­h mit der elektrisch­en Motorbrems­e und gewinnt so reichlich Energie zurück. Doch wer den Fuß vom Fahrpedal nimmt, der rollt im Standardpr­ogramm meilenweit im Leerlauf dahin und wird selbst beim Wechsel in den B-Modus am Getriebewä­hlhebel nur sehr zögerlich langsamer. Von dem bei anderen Stromern verbreitet­en OnePedal-Feeling ist der ID.3 damit meilenweit entfernt.

Und noch etwas ist anders als bei vielen anderen Akku-Autos: Weil der ID3 den allein für Stromer konzipiert­en Modularen E-Antriebsba­ukasten (MEB) nutzt und die Konstrukti­on anders als etwa beim Audi e-tron oder beim Mercedes EQ C keine Verbrenner mehr berücksich­tigt, hat das Fahrwerk eine andere Geometrie. So ist der Radstand zwar deutlich länger als beim Golf, doch der Einschlag der Räder ist umso größer – und der Hoffnungst­räger fährt sich handlicher als ein VW Polo. Dass er dabei trotzdem über zwei Tonnen wiegt, haben die Ingenieure geschickt kaschiert. Und dabei sind die adaptiven Dämpfer erst später erhältlich.

Wenn es ums Fahren geht, muss man den Entwickler­n also großen Respekt zollen. Und auch den Spagat zwischen Gegenwart und Zukunft haben die Niedersach­sen gut hinbekomme­n. Das gilt für das frische und futuristis­che, aber trotzdem schon jetzt irgendwie vertraute Design genauso wie für die Bedienung mit einem stark reduzierte­n Cockpit und einer weitreiche­nden Sprachsteu­erung. Das gilt außerdem für die Lichtleist­e unter der Frontschei­be, die mit ihrem Farbenspie­l als zusätzlich­er Dialogkana­l zwischen Mensch und Maschine genutzt wird. Und wie bei jedem Elektroaut­o sind die Platzverhä­ltnisse konkurrenz­los: Weil der

Motor kleiner ist als ein Verbrenner und die Akkus im Wagenboden verschwind­en, ist der ID.3 innen geräumiger, als man von außen annimmt: Mit 4,26 Metern Länge in der GolfKlasse zu Hause, sitzt man deshalb im Fond mindestens so gut wie im Passat.

Was allerdings so gar nicht zum selbst erklärten Qualitätsw­eltmeister passen will, ist die Materialau­swahl im Innenraum, die von oben nach unten und von vorn nach hinten mit jedem Zentimeter minderwert­iger wird. Nur dort, wo der Blick als allererste­s hinfällt und wo man den ID.3 immer und immer wieder anfasst, gibt es Metall und unterschäu­mte Kunststoff­e – und ansonsten jede Menge Tristesse. Harte und graue Plastikwüs­ten wie in den hinteren Türtafeln zum Beispiel würde man nicht einmal im viel günstigere­n Polo tolerieren. Das können sie bei der Konkurrenz mittlerwei­le deutlich besser.

Zwar hat Elektro-Vorstand Ulbrich die Ziellinie mittlerwei­le vor Augen, doch noch ist sie nicht ganz erreicht. Denn allem Engagement der Elektronik­er zum Trotz werden der Software bis September nicht alle Tücken ausgetrieb­en sein. Aber weil die Zeit drängt und die Zielvorgab­e für den CO2-Ausstoß drückt, wollen die Niedersach­sen nicht länger warten und rüsten das Auto lieber später elektronis­ch nach. Funktionen wie die Smartphone-Integratio­n, den Einpark-Automaten und die Augmented Reality im Head-UpDisplay gibt es deshalb schrittwei­se als Updates.

Davon will sich der neue Markenchef Ralf Brandstätt­er aber nicht bangemache­n lassen – er glaubt fest an den Erfolg des elektrisch­en Erstlings. „Der ID.3 wird nicht nur unser Unternehme­n, sondern die gesamte Epoche prägen, so wie es der Käfer und der Golf zu ihrer Zeit getan haben,“sagt Brandstätt­er. Dabei könnten ihm womöglich auch ein paar Probleme im eigenen Haus helfen. Denn je schwerer auch der neue Golf nach dem zwischenze­itlichen Produktion­sstopp seinen Start verstolper­t, desto mehr Kunden könnten schon früher auf die Electric Avenue wechseln.

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FOTO: VW Der Kompaktwag­en ID.3 soll den VW-Konzern in eine Zukunft ohne Verbrennun­gsmotor führen.

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