Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Frust, Alkohol und viele Unbekannte
Nach den Krawallen in Stuttgart hat die Suche nach den Ursachen begonnen
STUTTGART - Feiernde, Frustrierte oder doch politisch Motivierte? Nach den Krawallen in Stuttgart hat die Suche nach Ursachen für die Randale mit 19 verletzten Polizisten, 40 beschädigten Geschäften und bislang 24 Festnahmen begonnen. Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz betont am Montag: „Wir haben weiter keine verdichteten Hinweise auf politische oder religiöse Hintergründe, ermitteln in alle Richtungen.“
Das Augenmerk der 40-köpfigenErmittlungsgruppe „Eckensee“gilt der Eventszene. Die Landeshauptstadt zieht seit Jahren besonders junge Menschen an, die im Sommer draußen feiern. Die Menge versammelt sich rund um den Eckensee vor der Oper, vor dem Neuen Schloss und in Teilen des Schlossgartens. „Spätestens seit der Fußball-WM 2006 hat sich Stuttgart zum Anziehungspunkt dafür entwickelt“, erklärt Simon Fregin, Streetworker der Evangelischen Gesellschaft. Etwa die Hälfte der Partygänger komme aus Stuttgart, der Rest aus dem per S-Bahn angebundenen Speckgürtel. „Niemand verabredet sich hier gezielt zu Prügeleien oder um Polizisten anzugreifen“, sagt Sozialarbeiterin Anna Krass von der Caritas.
Allerdings hat sich die Stimmung in der Innenstadt in den vergangenen Wochen gewandelt. Die Sozialarbeiter machen dafür Einschränkungen durch die Corona-Pandemie verantwortlich. Den Jugendlichen fehle der Kontakt zu Freunden, viele lebten auf engem Raum mit Eltern und Geschwistern zusammen, ohne Schule fehle ein geregelter Alltag, viele langweilten sich. Noch immer seien weder alle Jugendangebote noch alle Kneipen geöffnet. „Man spürt da schon einen gewissen Frust. Gerade Schüler, die in diesem Jahr ihren Abschluss machen und danach groß feiern wollten, sind enttäuscht“, sagt Krass. Viele hätten sich auf einen neuen Lebensabschnitt gefreut, jetzt bleibe für junge Menschen oft unklar, wie es mit Ausbildung oder Studium weitergehe.
Die seit mehreren Wochen angespannte Stimmung hat die Polizei registriert. Stephan Zantis, am Samstagabend lange Einsatzleiter bei den Krawallen: „Man merkt dieses Knistern, diese hormongeladene Stimmung, jeder will sich beweisen, da reicht dann ein Funke.“Diesen Funken schlug kurz am Samstag vor Mitternacht eine Polizeikontrolle, ein Jugendlicher wurde wegen Drogendelikten festgenommen. Danach solidarisierten sich Hunderte und attackierten die Polizei. „Wir sind Gewalt gewöhnt, auch gegen uns. Aber das habe ich in 25 Dienstjahren nicht erlebt“, berichtet Zantis.
Der Einsatzleiter glaubt nicht daran, dass die Lage völlig spontan eskaliert ist: „Es waren Maskierte darunter, es flogen Farbbeutel. Wenn ich feiern gehe, habe ich so etwas nicht dabei.“Ob es schon vorher feste
Pläne etwa linker Gruppen gab, zu randalieren oder ob sich Personen spontan verabredeten und den Krawallen anschlossen, sei noch nicht zu sagen. Auf den öffentlich zugänglichen Videos sind verschiedene Rufe zu hören, darunter zum Beispiel „Fuck the System!“und „Allahu akbar“.
Zusätzlich zur aufgeheizten Stimmung machen sowohl Polizei als auch Sozialarbeiter ein neues Phänomen aus. „Es gibt eine Gewaltästhetik“, sagt Simon Fregin. Attacken auf Polizisten würden verherrlicht und als Beweis von Männlichkeit gesehen. Außerdem verbreiteten sich viele Informationen heute schnell und ungefiltert über Chatprogramme wie Whatsapp oder Soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram. „Junge Menschen sehen da, wie vermeintliche Promis wie Attila Hildmann zum Widerstand gegen den Staat aufrufen“, so Fregin. Sie bekämen die Vorgänge in den USA mit, wo das Rassismus-Problem in Teilen der US-Polizei derzeit offensichtlich wird. Verhältnisse, die in Deutschland und in Stuttgart nach Ansicht der Jugendszene-Kenner definitiv nicht herrschen – aber die Bilder aus den USA und die fehlende Einordnung heizten die Stimmung dennoch auch hierzulande auf. Partygänger selbst berichten, dass Menschen mit Migrationshintergrund wesentlich häufiger kontrolliert würden als andere.
Neu sei nicht das Problem junger Feiernder in Stuttgart. „Wir hatten hier immer Zusammenstöße mit der Polizei, als Reaktion darauf wurde ja die offene Jugendarbeit in der Stadt vor Jahrzehnten gegründet“, sagt Sozialarbeiter Fregin. Neu sei aber die Gemengelage und die plötzliche Eskalation. „Es ist aber sicher zu früh, um alle Ursachen zu kennen.“„Jung, männlich, betrunken“– so beschreibt Stuttgarts Vize-Polizeichef Thomas
Berger die am Sonntag Festgenommenen. Einsatzbeamte fügen dem noch hinzu „mehrheitlich mit Migrationshintergrund“. Unter den 25 vorläufig Festgenommenen waren 12 ohne deutschen Pass, drei weitere mit nicht näher genannten ausländischen Wurzeln. Migranten bildeten aber keineswegs die Mehrheit der Partyszene, so die Sozialarbeiter. „Die ist ein Querschnitt der Menschen, die hier und in der Region leben“, sagt Krass. Vertreten seien alle sozialen Milieus.
Unter den Festgenommenen waren laut Polizei sogar 14-Jährige – typisch für die Partyszene, kommen doch gerade junge Feiernde nicht in Clubs. Dafür aber an Alkohol, den verkaufen Läden im nahen Bahnhof rund um die Uhr. „Verbote helfen uns da kaum, die besorgen sich den Alkohol eben vorher anderswo“, sagt Polizist Zantis. „Es gibt viele Gründe für diese Entwicklung, da müssen jetzt auch mal andere, als wir ran, Politik und Gesellschaft.“
Dem stimmt Sozialarbeiter Fregin zu: „Das kann niemand alleine lösen. Die Polizei muss und wird zum Glück jetzt gut reagieren. Aber wir wünschen uns natürlich, dass wir mit mehr Sozialarbeitern vor Ort sein können“, sagt Fregin. Bis 2013 gab es ein von Stadt und Land finanziertes Projekt. Freitag und Samstag waren je vier Sozialarbeiter unterwegs, versuchten zu deeskalieren, Stimmungen mitzubekommen und auf Problemgruppen zuzugehen. Doch das Geld wurde gestrichen, heute sind die Streetworker nur noch ab und zu allein unterwegs.
Das Landessozialministerium sagte dazu auf Anfrage, der Regierungsbezirk Stuttgart habe mit im Schnitt einer Million Euro in den vergangenen drei Jahren besonders stark von der Landesförderung für mobile Jugendarbeit profitiert.
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