Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der ewige Präsident
Mit einer Verfassungsänderung möchte sich Wladimir Putin an der Macht halten – Abstimmung am 1. Juli
Von Varvara Podrugina
MOSKAU - Wera Petukhowa hat gerade ihr Bachelorstudium in Journalistik an der Lomonossow-Universität Moskau abgeschlossen, der größten Universität Russlands. Wegen der Corona-Krise gibt es für die Absolventen im Land in diesem Jahr eigentlich keine offiziellen Abschlussfeiern. Doch seit dem 9. Juni sind die meisten Corona-Maßnahmen in der russischen Hauptstadt gelockert worden – und das trotz der täglich etwa 8500 neu Infizierten. Ein Grund für die schnellen Lockerungen könnte die anstehende Verfassungsänderung sein.
Der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobyanin erklärte am 8.Juni völlig unerwartet das Ende einiger Schutzmaßnahmen – obwohl er noch ein paar Tagen zuvor gewarnt hatte, dass Arbeits- und Bewegungsfreiheit bis mindestens Mitte Juni nicht gewährleistet werden könnten. Die Logik der Behörden wirke zwar sehr chaotisch, sagt die Studentin Petukhowa. „Aber ich glaube, dass höhere Führungskräfte Sobyanin vor zu harten wirtschaftlichen Folgen der Einschränkungen gewarnt haben“, sagt sie. Noch ein Grund für die Eile ist die Abstimmung zur Verfassungsänderung am 1. Juli.
Die Änderungen haben die Staatsduma-Abgeordneten schnell ausgearbeitet. Ende Januar hat Präsident Wladimir Putin angekündigt, es sei die Zeit, die Verfassung von 1993 nachzubessern. Nach bereits einer
Woche war der Sonderausschuss mit dem ersten Änderungsentwurf fertig. Die vorgeschlagenen Änderungen betreffen am stärksten die traditionellen Werte Russlands. Zum Beispiel, so heißt es in der Neufassung: „Russland bewahrt die Ideale der Vorfahren, die uns den Glauben an Gott übergaben.“Gleichzeitig bleibt Russland formal ein säkularer Staat, wie in einem anderen Artikel der Verfassung steht. Russisch sei nun die Sprache des „staatenbildenden Volkes“. Den Begriff „russisches Volk“verwenden die Autoren aber nicht. Die neue Verfassung definiert die Ehe außerdem als eine Vereinigung von Mann und Frau, auch erklärt sie den Vorrang nationaler Gesetze über internationales Völkerrecht. Russische Experten und Medien wunderten sich über das Tempo, das die Regierung bei der geplanten Verfassungsänderung vorlegt – und warum so viele spezifische Punkte in der Verfassung verankert werden sollen. Erziehungsprinzipien, Mindestlohn und Rente, Verbote der ausländischen Staatsangehörigkeit und Immobilien im Ausland für Staatsbeamte. Solche Details regulieren normalerweise andere Gesetze. Im März wurde das Ziel des Kremls hinter diesen Änderungen jedoch deutlich. Die erste russische Astronautin und jetzige StaatsdumaAbgeordnete der Regierungspartei „Einiges Russland“, Walentina Tereschkowa, hat eine weitere Veränderung vorgeschlagen: Die bisherigen Amtszeiten von Präsident Putin soll auf null gesetzt werden, damit er 2024 wieder für die Präsidentschaft kandidieren darf. Putin hatte diese Idee akzeptiert, unter der Voraussetzung, dass auch die Bevölkerung sie befürwortet.
Mit der neuen Verfassung kann Putin also theoretisch bis 2036 an der Macht bleiben. Daher verwandelt sich die Volksabstimmung in ein Vertrauensreferendum für Putin, wie die russische Zeitung „RBK“schreibt.
Dass damit die Amtszeit Putins verlängert werden soll, scheint wahrscheinlich. Erstens bilden alle Änderungen formell ein einziges Gesetz. Die Wähler können nur über das ganze Paket abstimmen, nicht aber für einzelne Punkte. Zweitens gibt es Zweifel daran, ob die Abstimmung in der geplanten Form rechtens ist. Es handele sich um kein Referendum oder Plebiszit, sondern um eine Volksabstimmung, für die ein spezielles Gesetz geschrieben werden müsste, sagt etwa die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman im Radiosender „Echo Moskwy“. Außerdem haben die Behörden das Veränderungsgesetz formal ohnehin bereits verabschiedet, erinnert Schulman: Duma und Verfassungsgericht haben es befürwortet und der Präsident habe es unterzeichnet. Die Volksabstimmung ist rechtlich also nicht bindend.
„Wir hatten die Präsidentschaftswahl 2024 schon vor Augen“, sagt die Studentin Petukhowa. „Es war natürlich naiv zu glauben, unser Leben hätte sich danach total geändert, aber trotzdem haben wir gehofft, dass die zweite Amtszeit Putins endet.“Die Zustimmungswerte und das Vertrauen für Putin fallen stetig. Deshalb wolle er sich mit der Abstimmung schützen. „Die Regierung wirft sich selbst einen Rettungsring zu, obwohl sie noch nicht sinkt. Aber sie versteht, dass das Wetter zu einem Schiffbruch führen kann“, sagt Petukhowa.
Die junge Journalistin wohnt in Moskau, reist viel und sieht die Staatspolitik kritisch. Die vom Kreml nun geförderten traditionellen Werte findet sie unpassend für ein progressives Land, das den Fortschritt anstrebt. Aber sie verstehe, warum der Kreml diese Kampagne mit einer solchen Propaganda begleitet. Laut Petukhowa wäre es seltsam, wenn sich die Regierung auf die liberale Jugend Moskaus verlassen wurde: „Ihren treuen Wählern sind konservative Werte natürlich näher. Deshalb ist es für den Kreml strategisch vorteilhaft, sie zu unterstützen“, sagt Petukhowa. Doch stattdessen auf progressive Veränderungen zu setzen, würde bei konservativen Wählern den Eindruck erwecken, die Regierung befürchte abgewählt zu werden. An der Abstimmung teilnehmen wolle die Studentin trotz aller Kritik. „Für diese Prozedur gibt es absolut keine rechtliche Grundlage, aber ich werde trotzdem dagegen stimmen”, sagt Petukhowa.