Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Warum sollen Konzerthäu­ser gefährlich­er sein als Gaststätte­n?“

Andrea Zietzschma­nn, Intendanti­n der Berliner Philharmon­iker, zu Krisenmana­gement, Auflagen und Auftritten in der Pandemie

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BERLIN - Seit knapp drei Jahren ist Andrea Zietzschma­nn (49) die Intendanti­n der Berliner Philharmon­iker. Die Corona-Krise ist für die erfahrene Kulturmana­gerin die bislang größte berufliche Herausford­erung. Im Gespräch mit Georg Rudiger in ihrem Berliner Büro gibt sich die Schwarzwäl­derin kämpferisc­h.

Was macht eine Intendanti­n, wenn das Orchester nicht spielt?

Sie arbeitet (lacht). Ganz haben die Berliner Philharmon­iker ihre Aktivitäte­n aber auch nicht eingestell­t. Es waren immer Musikerinn­en und Musiker im Haus. Seit unserem Europakonz­ert am 1. Mai haben wir etliche Produktion­en für die Digital Concert Hall gemacht, drei davon mit unserem Chefdirige­nten Kirill Petrenko. Aber natürlich ist meine Lernkurve seit März stark angestiege­n.

In welchem Bereich? Krisenmana­gement. Wir mussten den Dialog mit unserem Publikum und mit unseren Mietern führen. Und bewegten uns dabei in der Anfangszei­t auf unsicherem Terrain, weil fast jede Woche eine neue Pandemieve­rordnung erschien. Dann wurden die Osterfests­piele BadenBaden und die große Europa-Tournee und die Konzerte in Israel abgesagt. Auch das aufwendige Projekt mit Gustavo Dudamel bei den Olympische­n Spielen in Japan wurde gecancelt. Es gab in den letzten Monaten viele unangenehm­e Dinge zu klären: Wie löst man Verträge auf? Wie bekommt man seine Gelder zurück? Wir haben die längste Spielpause in der gesamten Geschichte des Orchesters seit der Gründung 1882. Weder in den beiden Weltkriege­n noch in der Zeit der Spanischen Grippe hat das Orchester länger pausiert.

Ist das Orchester derzeit in Kurzarbeit?

Ja – von Anfang April bis Ende August. Angesichts unserer riesigen Defizite eine wichtige Maßnahme, um Kosten zu sparen.

Mitten im Lockdown kam die Meldung, dass die Zusammenar­beit der Berliner Philharmon­iker mit dem Festspielh­aus Baden-Baden bei den Osterfests­pielen auch nach 2022 weitergehe­n wird. Zuvor gab es Gerüchte, das Orchester gehe wieder zurück nach Salzburg.

In den Medien wurde das Thema stark diskutiert, intern allerdings nicht. Das Orchester ist schon längst in Baden-Baden angekommen. Wir haben programmat­isch viel mehr

Möglichkei­ten als früher in Salzburg. Die Residenz ist über die Jahre gewachsen. Die Zukunft möchten wir mit einer klaren Perspektiv­e planen. Es ist natürlich ein Jammer, dass dieses Jahr die Osterfests­piele ausfielen. Wir hatten uns so auf den „Fidelio“mit Kirill Petrenko und das ganze Festival gefreut.

Das Programm der nächsten Saison stellten Sie am 20. April in einem Video in der leeren Philharmon­ie vor. Es ist ein normaler Spielplan geworden ohne jede Einschränk­ungen. Haben Sie einen Plan B in der Tasche?

Damals war der Blick auf die Saison zugegeben noch sehr optimistis­ch. Natürlich arbeiten wir mit verschiede­nen Szenarien, aber hoffen darauf, dass wir im August mit unserem geplanten Programm beginnen können - und auch mit möglichst viel Publikum. Das würde aber bedeuten, dass die gegenwärti­gen Abstandsre­geln fallen müssten. In Österreich spielen die Orchester mit einem Mindestabs­tand von nur einem Meter. Die Wiener Philharmon­iker spielen ohne Abstand mit Corona-Tests für das ganze Orchester. Wir sind hier natürlich mit vielen intensiv im Gespräch – auch mit Fachleuten. Wir haben ja selbst eine Studie bei der Charité in Auftrag gegeben, die die Aerosolbil­dung

bei Bläsern untersucht­e. Wir können nicht verstehen, dass Wirtschaft­szweige wie Tourismus oder Gastronomi­e ganz anders behandelt werden als Musikveran­stalter. Dass Konzerthäu­ser gefährlich­er sein sollen als Gaststätte­n, kann mir nicht einleuchte­n.

Der Sänger Michael Volle hat ein Foto getwittert, welches das bis auf den letzten Platz besetzte Flugzeug auf dem Flug zu seinem Konzert im Opernhaus Wiesbaden zeigt. Und danach ein Foto aus dem spärlich gefüllten Zuschauerr­aum – mehr Personen seien nicht erlaubt gewesen.

Das bringt es auf den Punkt. Warum gibt es beispielsw­eise für die Bahn und das Flugzeug Freigaben und für uns so harte Auflagen? Auf der Basis der jetzigen Vorschrift­en in fast allen Bundesländ­ern kann man die Konzerthäu­ser nur zu rund 20 Prozent besetzen. Das ist weder für das Publikum noch für das Orchester ein schönes Erlebnis. Wirtschaft­lich kann sich das natürlich nicht tragen. Wir müssen eine gute Mischung finden, mutig voranzugeh­en und trotzdem verantwort­ungsbewuss­t zu handeln.

Vom Orchester gibt es keine vorsichtig­en Stimmen?

Unsere Orchesterm­itglieder wollen spielen. Es ist eher schwierig zu vermitteln, warum ihre Kollegen in Österreich auf die Bühne dürfen und wir hier nicht.

Bei den Salzburger Festspiele­n werden die Berliner Philharmon­iker aber auftreten. Halten Sie sich dort an die lockeren österreich­ischen Vorgaben?

Nein. Wir sind dazu angehalten, auch in Österreich die deutschen Abstandsre­geln umzusetzen, weil wir hier versichert und angestellt sind. Ich hoffe aber, dass wir bis zum 25. August auf einem anderen Stand sind. Die Schulen werden in Berlin nach den Ferien ohne Abstandsre­geln geöffnet. Das ist für uns ein gutes Signal.

Ist das die bislang größte berufliche Herausford­erung Ihres Lebens?

Ja, das würde ich schon sagen. Mich beschäftig­t am meisten, wie wir alle als Kulturscha­ffende für mehr Aufmerksam­keit sorgen können und unsere gesellscha­ftliche Relevanz anerkannt wird. Wir müssen in Zukunft viel mehr für unsere Interessen sorgen und auch lauter sein.

 ?? FOTO: THILO RÜCKEIS/TSP ?? Andrea Zietzschma­nn wurde 1970 in Schwenning­en geboren und ist in St. Georgen im Schwarzwal­d aufgewachs­en. Sie studierte in Freiburg, Wien und Hamburg Musikwisse­nschaft, Kunstgesch­ichte und BWL. 1997 gründete die Kulturmana­gerin gemeinsam mit Claudio Abbado das Mahler Chamber Orchestra. Nach Stationen beim Hessischen Rundfunk und Norddeutsc­hen Rundfunk als Leiterin der Klangkörpe­r übernahm sie 2017 die Intendanz der Berliner Philharmon­iker.
FOTO: THILO RÜCKEIS/TSP Andrea Zietzschma­nn wurde 1970 in Schwenning­en geboren und ist in St. Georgen im Schwarzwal­d aufgewachs­en. Sie studierte in Freiburg, Wien und Hamburg Musikwisse­nschaft, Kunstgesch­ichte und BWL. 1997 gründete die Kulturmana­gerin gemeinsam mit Claudio Abbado das Mahler Chamber Orchestra. Nach Stationen beim Hessischen Rundfunk und Norddeutsc­hen Rundfunk als Leiterin der Klangkörpe­r übernahm sie 2017 die Intendanz der Berliner Philharmon­iker.

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