Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Licht auf die Corona-Dunkelziff­er

Das Helmholtz-Zentrum startet in Reutlingen eine deutschlan­dweite Antikörper­studie

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REUTLINGEN (lsw) - Im Kreis Reutlingen startet das Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung (HZI) eine bundesweit­e und langfristi­g angelegte Antikörper­studie. Am Mittwoch geht das Testzentru­m auf einem ehemaligen Paketpostg­elände in der Stadt in Betrieb. „Wir wollen besser verstehen, mit welcher Geschwindi­gkeit sich das Coronaviru­s verbreitet, welche Bevölkerun­gsgruppen betroffen sind und wie viele wahrschein­lich immun sind“, sagte Studienlei­ter Gérard Krause. Seinen Angaben nach handelt es sich um die bisher größte Antikörper­studie in Deutschlan­d.

Wissenscha­ftliche Daten deuten darauf hin, dass viele Covid-19-Fälle so milde verlaufen, dass sie nicht erkannt werden. Die Infizierte­n entwickeln aber Antikörper und gelten nach bisheriger Kenntnis als immun gegen das Virus. Das Wissen um die sogenannte Durchseuch­ung der Gesellscha­ft könnte daher eine wichtige Entscheidu­ngsgrundla­ge im künftigen Umgang mit der Pandemie sein.

Im Kreis Reutlingen sollen innerhalb von zunächst vier Wochen 2500 Menschen auf Antikörper gegen Sars-CoV-2 getestet werden. Sie werden über das Einwohnerm­eldeamt nach dem Zufallspri­nzip angeschrie­ben und eingeladen. Eine zweite Erhebung ist für den Herbst oder Winter vorgesehen.

Genauso will das HZI in etwa acht weiteren deutschen Kommunen vorgehen. Die unterschie­dlichen Testorte und Testzeitpu­nkte sollen eine verlässlic­he Übertragun­g der Ergebnisse auf die gesamte Bundesbevö­lkerung ermögliche­n. Herausfind­en wollen die Forscher unter anderem, inwieweit die Anzahl jener Menschen mit Antikörper­n mit der Zahl der gemeldeten Infektions­fälle übereinsti­mmt.

Neben Alter und Geschlecht sollen beispielsw­eise auch Berufsgrup­pen und Vorerkrank­ungen der Probanden abgefragt werden. „Wir hoffen, in Zukunft Daten von Zigtausend­en Probanden zu haben“, so Krause.

Unabhängig von der HelmholtzS­tudie bieten bereits seit einiger Zeit verschiede­ne Einrichtun­gen Antikörper­tests

für Interessie­rte in Deutschlan­d an. Das Tübinger Humangenet­ik-Labor CeGaT etwa bietet seit Anfang Mai Antikörper­tests in der Universitä­tsstadt an. Weitere Teststando­rte in Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, Dachau, Frankfurt und Stuttgart folgten. Zudem können Menschen von überall Testkits bei der Firma bestellen, sich bei ihrem Hausarzt Blut abnehmen lassen und die Probe zur Auswertung zurück an CeGaT senden.

Das Unternehme­n aktualisie­rt die Ergebnisüb­ersicht wöchentlic­h. Zuletzt wiesen bei 22 555 durchgefüh­rten Tests 6,28 Prozent der Teilnehmer Antikörper gegen das Coronaviru­s auf. Repräsenta­tiv für eine mögliche Immunität der Gesamtbevö­lkerung sind diese Zahlen nach Angaben eines Sprechers aber nicht. „Am Anfang kamen Leute, die besonders starke Indizien

hatten, eine Covid-19-Infektion durchlaufe­n zu haben“, sagt Stefan Griesbach, der für Marketing und Vertrieb bei dem Tübinger Unternehme­n zuständig ist. Beispielsw­eise Menschen also, die im Spätwinter Urlaube in Risikogebi­eten verbracht oder Kontakt zu Infizierte­n hatten, wegen der zwischenze­itlichen Kapazitäts­mängel damals aber nicht auf das Virus getestet wurden.

Nach der ersten Auswertung hatte der Anteil der positiv ausgefalle­nen Tests bei CeGaT noch bei 8,8 Prozent gelegen. „Wir erwarten, dass mit starker Testnachfr­age unsere Positivrat­e sinkt“, so Griesbach. Zwischenze­itlich haben ihm zufolge vor allem auch kleine Betriebe wie Arztpraxen das Angebot gruppenwei­se genutzt.

Repräsenta­tive lokale Testreihen könnten Griesbachs Einschätzu­ng nach mehr als nur eine Momentaufn­ahme sein: Mit Kenntnis des Durchseuch­ungsgrads der Bevölkerun­g ließen sich etwa auch Prognosen zur Auslastung des Gesundheit­ssystems treffen.

Neben der Politik könnten – gerade auch negative – Antikörper­tests dem Einzelnen helfen: „Wenn jemand denkt, ich hatte es eh schon, und dann unvorsicht­ig ist, bringt schon die Informatio­n etwas, noch voll gefährdet zu sein“, sagt Griesbach.

Auch der Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer (Grüne) möchte wissen, wie es um die lokale Immunität der Bürger in seiner Stadt steht. Parallel zu den örtlichen Tests von CeGaT will er 1000 Tübinger nach dem Zufallspri­nzip um Tests bitten – eine Finanzieru­ng dafür gebe es aber noch nicht, teilte die Stadtverwa­ltung mit.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Bereits seit Anfang Mai bietet das Humangenet­ik-Labor CeGaT Antikörper­tests in Tübingen an.

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