Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Überraschendes Urteil
Russischer Regisseur Serebrennikow erhält Bewährung
Von Stefan Scholl
MOSKAU - Der russische Theaterregisseur Kirill Serebrennikow und zwei seiner Mitarbeiter wurden am Freitag in Moskau wegen Betrugs verurteilt. Dass sie trotzdem auf Bewährung freikamen, gilt in Moskau als große Überraschung.
Gegen 15.40 Uhr brach unter den 400 Menschen, die am Freitag vor dem Meschtschansker Bezirksgericht in Moskau ausharrten, Jubel aus: drei Jahre Bewährung für Kirill Serebrennikow. Vorher hatte das Gericht den Theater- und Filmregisseur, seine früheren Mitarbeiter Alexei Malobrodski und Juri Itin als kapitale Betrüger schuldig gesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte zwischen vier und sechs Jahren Gefängnis gefordert.
Das Verfahren gegen Sofia Alfenbaum, eine frühere Beamte des Kulturministeriums, wurde eingestellt. „Ein Schuldspruch, der praktisch einem Freispruch gleicht“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk. Tatsächlich fällen russische Richter nur 0,36 Prozent Freisprüche, auch Bewährungsstrafen sind die Ausnahme.
Fünfeinhalb Stunden hatte die Urteilsbegründung gedauert, die Worte der Richterin ließen viele Jahre Gefängnis erahnen. Sie sah es als erwiesen an, dass Serebrennikow und seine Kollegen zwischen 2011 und 2014 als Leiter der Theatergruppe „Siebtes Studio“129 Millionen Rubel Staatssubventionen (etwa drei Millionen Euro) für das Veranstaltungsprogramm „Platforma“gestohlen hatten. Von drei Gutachten wählte die Richterin das neueste und für Serebrennikow ungünstigste aus: Danach wäre „Platforma“vom Kulturministerium mit 216 Millionen Rubel (knapp fünf Millionen Euro) unterstützt, auch mit 87,5 Millionen Rubel (knapp zwei Millionen Euro) zu finanzieren gewesen.
Moskaus Intelligenzija betrachtete das Verfahren von Anfang als politischen Schauprozess: Serebrennikow, für Provokationen wie Nacktszenen berühmt, solle als Symbolfigur des liberalen Experimentaltheaters abgeurteilt werden. Oder wie er in seinem Schlusswort gesagt hatte: „Man reagiert auf unsere Arbeit mit Verfolgung, Festnahmen und Prozessen.“
Umso überraschter reagierte die Szene auf den milden Richterspruch. „Noch gestern schien klar, dass sie Kirill platt walzen“, erklärte der Filmregisseur Andrei Swjaginzew dem Sender TV-Doschd, „so gut sie können.“
Vor Gericht hatte Serebrennikow zugegeben, in der Buchhaltung habe Chaos geherrscht, übliches russisches Theater-Chaos. Wer Bühnenhandwerker, Komparsen oder Kostüme bezahlte, der musste bar bezahlen, musste Geld abheben, erhielt als Quittung formlose Papierchen oder gar keine, nach den kleinlichen Regeln der vaterländischen Finanzbuchhaltung durchaus kriminelle Lücken. „Die Theater brauchen Cash“, erklärt der Anwalt Sergei Badaschmin der BBC, „und das ist fatal.“
Politologe Korgonjuk glaubt, die Stimmung im Land habe zur Serebrennikows Rettung beigetragen. Zum einen stehe nächste Woche die Abstimmung über Wladimir Putins Verfassungsreform an, zum anderen fielen dessen Popularitätsraten. „Eine reale Gefängnisstrafe für Serebrennikow hätte heftige Unruhe im gesamten Internet und der Kulturszene hervorgerufen.“In dieser Situation ziehe es auch die Staatsmacht vor, sich keine neuen Feinde zu schaffen.