Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Tönnies stellt Schlachtbetrieb in Kempten ein
Bisher wurden Rinderhälften aus dem Allgäu 600 Kilometer an den Unternehmenssitz in Ostwestfalen gefahren
Von Michael Munkler
KEMPTEN - Am Schlachthof Kempten, der zur Unternehmensgruppe Tönnies gehört, werden seit einigen Tagen keine Rinder mehr geschlachtet. Entsprechende Informationen unserer Zeitung bestätigte Markus Eicher, Pressesprecher der Unternehmensgruppe Tönnies mit Sitz im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück (Kreis Gütersloh). Nach seinen Angaben wurde bisher am Standort Kempten lediglich geschlachtet. Die Rinderhälften seien dann ins 600 Kilometer entfernte Rheda-Wiedenbrück gefahren und am Stammsitz des Fleischproduzenten zerlegt worden. Dort aber wurde bekanntlich der Betrieb eingestellt, weil nachweislich 1300 Mitarbeiter mit dem Corona-Virus infiziert sind. Entsprechend werden am Stammsitz des Unternehmens keine Schlachttiere mehr zerlegt.
Am Standort Kempten gibt es nach offiziellen Angaben keine Corona-Fälle. Das ergaben Tests. Dort sind etwa 50 Menschen in der Produktion und etwa zehn in der Verwaltung tätig. Wie in der Fleischindustrie üblich, gibt es auch dort mit Werksverträgen Beschäftigte. Nach Angaben von Tönnies ist in Kempten keine Kurzarbeit für die Mitarbeiter vorgesehen. Auch Entlassungen seien nicht geplant. Derzeit seien die Mitarbeiter mit verschiedenen „technischen Dienstleistungen“beschäftigt. Auch wäre es möglich, eventuell einen kleinen Teil in Kempten zu zerlegen. Derzeit seien alle Kühlkapazitäten belegt.
Pro Tag waren bisher am Schlachthof in Kempten maximal 350 bis 400 Rinder geschlachtet worden. „Wir sind jetzt auf der Suche nach anderen Zerlegern“, sagte der Tönnies-Unternehmenssprecher. Erst dann könne in Kempten wieder geschlachtet werden. Wie lange in
ANZEIGE dem Betrieb nicht gearbeitet wird, ist unklar. „Diese Woche wird auf jeden Fall nicht geschlachtet“, sagte Unternehmenssprecher Eicher. Er bekräftigte: „Wir wollen so bald wie möglich wieder in den Regelbetrieb.“
Bis es soweit ist, müssen sich Bauern an andere Schlachthöfe wenden. Dort aber könnten die Kapazitäten nicht ausreichen. Entsprechend müssten die Landwirte ihre Tiere länger halten. Das wiederum könnte zu Problemen und geminderten Erlösen führen. Bullen beispielsweise gelten nur bis 24 Monate als Jungbullen. Danach sinkt der erzielte Fleischpreis für den Bauern, erläuterte ein Branchenkenner im Gespräch
mit unserer Zeitung. Nach seinen Worten sind lange Transporte von Schlachthälften, aber auch von lebenden Tieren, nach wie vor gängige Praxis – oft über hunderte von Kilometern. Je nach aktueller Marktsituation würden Tiere irgendwo in Deutschland möglichst günstig gekauft und dann über lange Strecken per Lkw zu einem Schlachtbetrieb gefahren. „Die großen Fleischkonzerne liefern sich einen gewaltigen Preiskampf“, sagte ein viele Jahre in der Branche Beschäftigter, der anonym bleiben will. Nur so seien die extrem niedrigen Fleischpreise bei Discountern möglich.
Der schwäbische Handwerkskammer-Präsident und selbstständige Metzgermeister Hans-Peter Rauch aus dem Oberallgäuer Waltenhofen-Hegge glaubt, dass die jüngsten Ereignisse in der Fleischbranche auch Auswirkungen auf die Verbraucherpreise haben werden. So waren bis zur Schließung bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück täglich etwa 20 000 Schweine geschlachtet worden. Wenn jetzt weniger Fleisch auf den Markt komme, würden die Preise anziehen, sagt Rauch – auch bei den großen Discountern. Nach seinen Worten sind demgegenüber kleine, handwerklich arbeitende Schlachtereien und Metzgereien unabhängig von der großen Krise in der Branche. Es könnte nach Rauchs Meinung auch möglich sein, dass Großbetriebe in anderen Ländern einspringen, wenn in Deutschland weniger geschlachtet und Fleisch zerlegt wird.
Wann beim Fleischkonzern Tönnies in Ostwestfalen die Produktion wieder anläuft, ist bislang unklar. Bis dort wieder in vollem Umfang gearbeitet wird, vergehen vermutlich mehrere Wochen. „Und dann werden sie wieder auf Mitarbeiter aus Osteuropa angewiesen sein“, sagt Rauch.