Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Hier ging es um eine ganze Nation“
Andreas Brehme erinnert sich 30 Jahre später an sein entscheidendes Elfmetertor im WM-Endspiel 1990
ROM - Helmut Rahn, Gerd Müller, Andreas Brehme, Mario Götze – wer in einem großen Finale das entscheidende Tor erzielt, bleibt für alle Zeiten in Erinnerung. Was das mit einem macht, hat Andreas Brehme genau 30 Jahre nach seinem Elfmetertor zum 1:0 für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gegen Argentinien bei der WM 1990 erzählt. Und natürlich ging es im Gespräch mit Patrick Strasser auch um Lothar Matthäus’ Schuhe.
Herr Brehme, am 8. Juli jährt sich der Triumph bei der Fußball-WM 1990 mit Ihrem goldenen Tor im Endspiel gegen Argentinien zum 30. Mal. Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf: An welche Details von der Siegesfeier nach dem Finale von Rom erinnern Sie sich heute noch?
Zunächst hat der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl in der Kabine des Olympiastadions noch ein Bierchen mit uns getrunken. Nach der Siegerehrung und dem ganzen Drum und Dran sind wir sehr spät zurück ins Hotel gekommen, ich schätze mal um 2 Uhr nachts. Dann hat uns der Franz erstmal in den Besprechungsraum gebeten.
Was hatte Beckenbauer inmitten der weltmeisterlichen Partystimmung zu verkünden?
Dass er nun als Teamchef aufhört. Und dass wir ab jetzt alle mit ihm per Du sein sollen.
Nach dem Empfang der WM-Goldmedaille der zweite Ritterschlag der Nacht, oder? Absolut. Aber ich habe mir damit sehr schwergetan. Denn der Franz ist eben der Franz, einer der Größten des Weltfußballs, zu dem ich immer aufgeschaut habe.
Damals dachte ich, das geht nicht. Wenn ich den Trainer künftig duze, kriege ich Schweißausbrüche.
Mittlerweile aber geht’s, oder? Natürlich. Wir sind gute Freunde geworden, der Lothar (Matthäus, Anm. der Red.), der Rudi (Völler, Anm. der Red.) und ich. Wenn wir uns, wie kürzlich im Salzburger Hotel Friesacher treffen, ist das immer wieder sehr schön.
Eine kurze Zwischenfrage sei erlaubt: Wie geht es dem 74-jährigen Franz Beckenbauer mittlerweile – nach sechs Bypässen, einer OP für eine künstliche Hüfte und einem Augeninfarkt?
Es geht ihm wieder besser, er macht einen guten, positiven Eindruck – das ist sehr schön zu sehen. Und unsere Treffen tun ihm sichtlich gut, da blüht er auf. Der Franz hat auch noch mal betont, dass unser WM-Titel von 1990 die verdienteste Weltmeisterschaft war, die je eine deutsche Mannschaft gewonnen hat. Ich muss sagen: Er hat recht.
30 Jahre danach ist der Triumph immer noch Thema. Wie stolz macht es Sie, nicht nur dabei gewesen zu sein, sondern den Elfmeter zum 1:0 verwandelt zu haben? Dass die Menschen heute noch schätzen, was wir damals erreicht haben, ist toll. Ich werde tagtäglich auf den Elfmeter angesprochen.
Weil Sie Deutschland zum Weltmeister gemacht haben. Wie bewerten Sie das „Foul“an Rudi Völler in der 85. Minute?
Man konnte den Elfmeter geben, weil der Abwehrspieler blöd hingeht. Als wir die Aktion mit Rudi hinterher in der Kabine noch mal gesehen hatten, war das Gelächter groß, dann haben wir ihn hochgenommen: „Ey, Rudi, bist du da zusammengebrochen?“
Nicht die einzig strittige Strafraumszene in diesem Finale. Genau. Wir hätten schon vorher beim Foul an Klaus Augenthaler einen Elfmeter bekommen müssen, ganz klar.
Legendär ist die Entscheidungsfindung zur Frage: Wer schießt? Bitte erzählen Sie uns die Dramatik dieser Sekunden noch einmal.
Wir hatten drei Schützen vereinbart: Lothar Matthäus, Rudi Völler und mich. Rudi ist gefoult worden und der Gefoulte schießt nicht. Lothar hat mir signalisiert, ich solle zum Punkt gehen. Er hat ein paar Schritte zurück gemacht, da war mir schnell klar, was das bedeutete.
Später erklärte Matthäus, er habe sich nicht sicher gefühlt, weil aus seinem Schuh Stollen herausgebrochen waren.
Sein Verzicht hatte nichts mit Angst zu tun, sondern mit der Frage, ob man sich sicher fühlt oder nicht. Ich finde es ungerecht, wenn manche Leute ihm vorwerfen, er habe sich in die Hosen gemacht. Nein. Lothar hat eine Weltklasse-WM gespielt und in diesem Moment die richtige Entscheidung getroffen. Denn hier ging es nicht um persönliche Eitelkeiten, sondern um uns, um die Mannschaft – und um eine ganze Nation.
Hatten Sie eigentlich mal zur Ersatzbank mit Teamchef Franz Beckenbauer geschaut?
Ja, Franz hat mir gezeigt, ich solle den Elfmeter schießen und hingehen. Ich fühlte mich auch relativ sicher.
Hat Ihnen dann irgendjemand etwas zugerufen?
Rudi Völler. Der sagte zu mir: „Andy, wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister.“Da hab‘ ich geantwortet: „Danke, mein Freund, danke für den Hinweis, das weiß ich auch!“Meine Güte, das war wohl der Spruch des Jahrhunderts.
Sie haben den Ball mit der Innenseite perfekt platziert ins Eck geschossen.
Wenn du halbhoch schießt, hat der Torhüter die besten Chancen, den Ball zu halten. Und wenn du die Kugel hoch oben in den Winkel zimmern willst – puh, das ist schon ein Risiko.
Haben Sie beim Schuss gespürt: Ja, der ist es!
Ja, weil ich ihn gut getroffen habe, richtig gut.
Wenn man sich die Bilder des Torjubels anschaut, dann muss man ja froh sein, dass Sie unverletzt geblieben sind ...
… und dass ich nicht erstickt bin. Da hatte ich echt ganz kurz Beklemmungen. Auf einmal lagen alle auf mir drauf. Eine riesengroße Erleichterung.
Für Teamchef Beckenbauer waren Elfmeter keine Glückssache, sondern eine Frage des Trainings. Er hat sie damals in Italien üben lassen.
Und ich habe immer gesagt: Trainer, das bringt nichts. Im Training habe ich keine besondere Motivation, weil da keine 80 000 Fans sind, die pfeifen oder raunen. Und wenn ich auf dem Trainingsplatz verschieße, ärgere ich mich auch nicht. Das Einzige, was du im Training üben kannst: Ein Eck aussuchen und genau zielen. Aber die totale Konzentration brauchst du dann im Spiel, du musst alles um dich herum ausblenden können. Das kannst du im Training nicht simulieren.
Für diesen Sommer hatten Sie ein großes Wiedersehen mit den Beteiligten von 1990 geplant, eine richtig schöne 30-Jahre-Feier. Fällt die durch die Corona-Pandemie nun ins Wasser?
Nein, wir wollen das nun im Herbst machen, für zwei, drei Tage im Süden der Toskana. Franz Beckenbauer hat das Hotel ausgesucht, demnächst wollen wir die Einladungen an die Spieler verschicken. Auch all die Trainer wie Sepp Maier, Berti Vogts und Holger Osieck sowie die Physiotherapeuten von damals sollen dabei sein – plus Anhang natürlich.