Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Merkels Plädoyer für Europa
Die Bundeskanzlerin wirbt vor dem Europäischen Parlament mit Leidenschaft für eine engere Zusammenarbeit
BRÜSSEL - Die Polizeieskorten sind zurück auf Brüssels Straßen. Doch bei Angela Merkels Antrittsbesuch als frisch gebackene Ratspräsidentin für sechs Monate zeigte sich: Die sogenannte neue Normalität hat fürs Auge nicht viel zu bieten. Der Eingang des Europaparlaments, schon zu Vor-Corona-Zeiten einer der wohl hässlichsten Empfangsbereiche des Kontinents, wurde nicht wie sonst von einem Pulk eifriger Reporter gnädig verdeckt.
Angela Merkel entstieg der schwarzen Limousine im lindgrünen Blazer, mit medizinischem Mundschutz im Entenschnutenschnitt. Im Hintergrund erinnerte ein Soldat mit Maschinengewehr an die fünf Jahre zurückliegenden Terroranschläge auf mehrere Ziele der Stadt. Die damals eingeführten Schutzmaßnahmen, die die Begegnungen zwischen Politikern, Bürgern und Journalisten massiv einschränken, wurden nie rückgängig gemacht. Auch im Kampf gegen das Virus stellt sich die Frage, ob demokratische Freiheiten dauerhaft verlorengehen.
Sie scheint auch die Kanzlerin umzutreiben. In ihrer Rede erinnerte sie an die Opfer der Pandemie, aber auch an die Einschränkung elementarster Grundrechte. „Um diese Grundrechte haben Generationen hart gerungen. Und sie dürfen nur mit sehr gewichtigen Gründen und sehr kurzfristig eingeschränkt werden. Für mich, die ich 35 Jahre meines Lebens in einem System der Unfreiheit gelebt habe, war das eine Entscheidung, die mir unendlich schwer gefallen ist.“
Die Botschaft wurde verstanden und von Damian Ciolos, Chef der liberalen Gruppe im Europaparlament, in eine konkrete Forderung übersetzt. Mit Bezug auf die anstehenden Finanzverhandlungen sagte er: „Sie haben kürzlich erklärt, dass man sich erst über die Finanzen einigen muss, bevor man über Rechtsstaatlichkeit sprechen kann. Man kann aber Europa nicht allein mit Geld zusammenhalten. Zu viele Führer torpedieren die Werte der Union. Das perfekte Beispiel ist Viktor Orban, Mitglied Ihrer politischen Familie. Es ist an der Zeit, die Mittel aus den europäischen Fonds an die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu binden.“
Manfred Weber, CSU, Vorsitzender der Konservativen im Europaparlament, hat die Vertreter der Orbanpartei in der eigenen Fraktion sitzen. Dennoch beklatschte er die Anmerkungen von Ciolos ostentativ und lange. Merkels Antwort hingegen fiel nüchterner aus. Rechtsstaatlichkeit sei wichtig, aber ohne Kompromissbereitschaft laufe auf europäischer Ebene nun einmal gar nichts.
Grüne und Sozialdemokraten scheinen Merkel ein Halbjahr zuzutrauen, in dem viele ihrer politischen Wünsche in Erfüllung gehen könnten. Scharfe Kritik hingegen kam von ganz links und ganz rechts. Jörg Meuthen von der AfD beschreibt das deutsche Programm als „Ausgabenexzesse auf Pump mit dem Geld der dazu nicht befragten Steuerzahler.“Martin Schirdewan von der Linkspartei hingegen fürchtet, dass auch diesmal, wie bei der Finanzkrise 2008, die südeuropäischen Länder die Zeche bezahlen müssen. Keinesfalls dürften die ausgeschütteten Mittel erneut an Reformund Sparauflagen geknüpft werden.
Das scheint auch die Kanzlerin so zu sehen. Der Unterschied zwischen der Finanzkrise 2008 und der jetzigen Pandemie bestehe darin, dass „es heute um ein Virus geht, für das keiner etwas kann und das die Länder in sehr unterschiedlicher Weise getroffen hat. Dafür bedarf es ganz anderer Instrumente – deshalb werbe ich für diesen Wiederaufbaufonds“, erklärte Merkel.
Den nüchtern-weißen Mundschutz hatte sie zwischenzeitlich durch einen dunklen mit dem Logo der deutschen Ratspräsidentschaft ersetzt.