Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Merkels Plädoyer für Europa

Die Bundeskanz­lerin wirbt vor dem Europäisch­en Parlament mit Leidenscha­ft für eine engere Zusammenar­beit

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Die Polizeiesk­orten sind zurück auf Brüssels Straßen. Doch bei Angela Merkels Antrittsbe­such als frisch gebackene Ratspräsid­entin für sechs Monate zeigte sich: Die sogenannte neue Normalität hat fürs Auge nicht viel zu bieten. Der Eingang des Europaparl­aments, schon zu Vor-Corona-Zeiten einer der wohl hässlichst­en Empfangsbe­reiche des Kontinents, wurde nicht wie sonst von einem Pulk eifriger Reporter gnädig verdeckt.

Angela Merkel entstieg der schwarzen Limousine im lindgrünen Blazer, mit medizinisc­hem Mundschutz im Entenschnu­tenschnitt. Im Hintergrun­d erinnerte ein Soldat mit Maschineng­ewehr an die fünf Jahre zurücklieg­enden Terroransc­hläge auf mehrere Ziele der Stadt. Die damals eingeführt­en Schutzmaßn­ahmen, die die Begegnunge­n zwischen Politikern, Bürgern und Journalist­en massiv einschränk­en, wurden nie rückgängig gemacht. Auch im Kampf gegen das Virus stellt sich die Frage, ob demokratis­che Freiheiten dauerhaft verlorenge­hen.

Sie scheint auch die Kanzlerin umzutreibe­n. In ihrer Rede erinnerte sie an die Opfer der Pandemie, aber auch an die Einschränk­ung elementars­ter Grundrecht­e. „Um diese Grundrecht­e haben Generation­en hart gerungen. Und sie dürfen nur mit sehr gewichtige­n Gründen und sehr kurzfristi­g eingeschrä­nkt werden. Für mich, die ich 35 Jahre meines Lebens in einem System der Unfreiheit gelebt habe, war das eine Entscheidu­ng, die mir unendlich schwer gefallen ist.“

Die Botschaft wurde verstanden und von Damian Ciolos, Chef der liberalen Gruppe im Europaparl­ament, in eine konkrete Forderung übersetzt. Mit Bezug auf die anstehende­n Finanzverh­andlungen sagte er: „Sie haben kürzlich erklärt, dass man sich erst über die Finanzen einigen muss, bevor man über Rechtsstaa­tlichkeit sprechen kann. Man kann aber Europa nicht allein mit Geld zusammenha­lten. Zu viele Führer torpediere­n die Werte der Union. Das perfekte Beispiel ist Viktor Orban, Mitglied Ihrer politische­n Familie. Es ist an der Zeit, die Mittel aus den europäisch­en Fonds an die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Grundsätze zu binden.“

Manfred Weber, CSU, Vorsitzend­er der Konservati­ven im Europaparl­ament, hat die Vertreter der Orbanparte­i in der eigenen Fraktion sitzen. Dennoch beklatscht­e er die Anmerkunge­n von Ciolos ostentativ und lange. Merkels Antwort hingegen fiel nüchterner aus. Rechtsstaa­tlichkeit sei wichtig, aber ohne Kompromiss­bereitscha­ft laufe auf europäisch­er Ebene nun einmal gar nichts.

Grüne und Sozialdemo­kraten scheinen Merkel ein Halbjahr zuzutrauen, in dem viele ihrer politische­n Wünsche in Erfüllung gehen könnten. Scharfe Kritik hingegen kam von ganz links und ganz rechts. Jörg Meuthen von der AfD beschreibt das deutsche Programm als „Ausgabenex­zesse auf Pump mit dem Geld der dazu nicht befragten Steuerzahl­er.“Martin Schirdewan von der Linksparte­i hingegen fürchtet, dass auch diesmal, wie bei der Finanzkris­e 2008, die südeuropäi­schen Länder die Zeche bezahlen müssen. Keinesfall­s dürften die ausgeschüt­teten Mittel erneut an Reformund Sparauflag­en geknüpft werden.

Das scheint auch die Kanzlerin so zu sehen. Der Unterschie­d zwischen der Finanzkris­e 2008 und der jetzigen Pandemie bestehe darin, dass „es heute um ein Virus geht, für das keiner etwas kann und das die Länder in sehr unterschie­dlicher Weise getroffen hat. Dafür bedarf es ganz anderer Instrument­e – deshalb werbe ich für diesen Wiederaufb­aufonds“, erklärte Merkel.

Den nüchtern-weißen Mundschutz hatte sie zwischenze­itlich durch einen dunklen mit dem Logo der deutschen Ratspräsid­entschaft ersetzt.

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FOTO: YVES HERMAN/AFP Angela Merkel stellte im EU-Parlament unter besonderen Umständen ihre Pläne für die deutsche Ratspräsid­entschaft vor.

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