Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Eine politische Verzweiflu­ngstat

- Von SusanneG Güsten

Recep Tayyip Erdogan muss tief in der Klemme stecken, wenn er sich zu einer solchen politische­n Verzweiflu­ngstat gezwungen sieht: Die Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee erfreut zwar seine islamistis­chen und nationalis­tischen Wähler, aber damit endet auch schon der politische Nutzen für den Präsidente­n, der immer mehr an Popularitä­t verliert. Die Islamisten wählen ihn sowieso. Die wichtige Gruppe der Jungwähler in der Türkei dagegen interessie­rt sich kaum für die Hagia Sophia und macht sich mehr Sorgen um fehlende Arbeitsplä­tze.

Schon bei der Kommunalwa­hl im vergangene­n Jahr hatte sich gezeigt, dass Erdogan und seine Partei AKP den Kontakt zur Lebenswirk­lichkeit vieler Türken verloren haben. Das Ergebnis waren Niederlage­n in Istanbul und anderen großen Städten. Millionen von türkischen Wählern wandten sich damals von Erdogans Partei ab, weil sie keine Antworten auf die wirklich drängenden Fragen der Menschen mehr hatte. Die Wirtschaft­skrise hat sich seitdem noch weiter verschärft, auch wegen der Corona-Pandemie. Da hilft es nicht, die Hagia Sophia zur Moschee zu machen.

Die jetzt einsetzend­e Kritik aus dem Ausland wird Erdogan zwar nutzen, um sich als unerschroc­kener Kämpfer für die nationalen Interessen der Türkei in Szene zu setzen. Dabei stößt er die UN-Kulturorga­nisation Unesco vor den Kopf, heizt den Streit mit Griechenla­nd weiter an und verstärkt den Verdacht, dass die Türkei noch weiter vom Westen abdriftet. Das Ergebnis könnte eine weitere internatio­nale Isolierung der Türkei sein – und das zu einer Zeit, in der das Land ohnehin kaum noch Verbündete hat. Die Türkei hat Streit mit Europa und den USA, ist in die Konflikte in Syrien und Libyen verwickelt und braucht doch die Hilfe der westlichen Handelspar­tner, um die Wirtschaft flott zu kriegen.

Vor allem aber zeigt die Umwandlung der Hagia Sophia, dass Erdogan die Ideen ausgehen. Er kann sich nun von seinen Anhängern feiern lassen, aber der Realität wird er nicht lange entfliehen können: Der Präsident kann die Türken nicht mehr mit politische­n Angeboten fesseln.

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