Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der Versandhan­delsriese auf Meßkirchs grüner Wiese

Was das Handelsunt­ernehmen Amazon am neuen Standort plant

- Von Simon Schwörer

MESSKIRCH - Über den staubigen Boden schlängeln sich Kabel und Rohre, beim Laufen knirscht das Kies unter den Sohlen der gelben Gummistief­el. Während Bauleiter Benjamin Reif über das fast zwölf Fußballfel­der große Gelände am Rande des Städtchens Meßkirch (Landkreis Sigmaringe­n) führt, merkt man, dass er die Baustelle wie seine Westentasc­he kennt. Vorbei an Baggern, aufgetürmt­en Rohren und umherwusel­nden Arbeitern. Reif trägt eine schwarze Brille, Helm, Warnweste. Und einen sonnenbran­droten Nacken. Die Halle, die das Bauunterne­hmen hier errichtet, sei eine, wie sie vielerorts gebaut werde. Standard sozusagen.

Der Mieter, der hier bald einzieht, ist das nicht. Es ist eines der weltgrößte­n Handelsunt­ernehmen. Der Technologi­ekonzern Amazon aus Seattle im US-Bundesstaa­t Washington. In Meßkirch entsteht ein Verteilzen­trum mit Parkplätze­n für knapp 800 Lieferwage­n. Die Arbeitshal­le ist bereits errichtet. Zwölf Meter hoch ist sie, 144 Meter lang, 67 Meter breit. Von Oktober an sollen Tausende Amazon-Päckchen am Tag die knapp 10 000 Quadratmet­er große Halle verlassen. Der Weltkonzer­n jetzt also auch in der Region. Genauer: im Industriep­ark Nördlicher Bodensee. Das Gelände liegt direkt am Knotenpunk­t der Bundesstra­ßen 311 und 313. Ein Grund, warum sich Amazon für den Standort entschied: „Hier in Meßkirch haben wir eine günstige Verkehrsin­frastruktu­r“, sagt Amazon-Sprecher Manuel Lesch.

Mit dem Verteilzen­trum Meßkirch wächst der Konzern, der vor allem als Onlinekauf­haus bekannt ist, in Deutschlan­d stetig weiter. „Aufgrund der weiter steigenden Kundennach­frage benötigt Amazon mehr Kapazitäte­n und Flexibilit­ät für die Auslieferu­ng“, sagt Amazon-Sprecherin Nadiya Lubnina. Darum beauftragt Amazon an seinen knapp 30 Verteilzen­tren in Deutschlan­d lokale Lieferunte­rnehmen für seinen eigenen Paketdiens­t. So ist es weniger auf etablierte Anbieter angewiesen. Oder wie Lubnina sagt, Amazon „ergänzt die Kapazitäte­n von DHL und Hermes und anderen um seine eigenen“.

Während die Auswirkung­en der Corona-Pandemie anderen Handelsunt­ernehmen zusetzt, gilt Amazon schon jetzt als einer der Gewinner der Krise. Allein im ersten Quartal des Jahres steigerte Amazon seinen Nettoumsat­z weltweit um 26 Prozent auf umgerechne­t 66,6 Milliarden Euro. Amazon beschäftig­t nach eigenen Angaben 840 000 Mitarbeite­r weltweit, in Deutschlan­d sind es mehr als 20 000 (Stand Ende 2019). Statt Entlassung­en in der Corona-Krise kündigte Amazon im Frühjahr sogar an, in den USA 100 000 neue Mitarbeite­r einzustell­en, um die gestiegene Zahl der Bestellung­en bewältigen zu können. Auch in Deutschlan­d sollen in diesem Jahr noch rund 2500 Stellen dazukommen.

Am Standort Meßkirch sollen rund 130 Mitarbeite­r einen Job finden. Amazon mietet das Gebäude für zehn Jahre vom Bauherrn, dem Immobilien­unternehme­n Garbe Industrial Real Estate, mit Option auf Verlängeru­ng. Im Moment ist die Halle noch leer, in der von Oktober an Arbeiter an Förderbänd­ern stehen und Pakete sortieren. Gelagert wird hier jedoch keine Ware.

Die liegt in den Logistikze­ntren. 14 davon gibt es in Deutschlan­d. Nach der Onlinebest­ellung geht dort der Auftrag ein. „Oft ist es so, dass der Artikel aus dem nächstgele­genen Logistikze­ntrum kommt, Amazon betreibt aber ein europäisch­es Netzwerk und es kann sein, dass Ihr Produkt in einem der europäisch­en Logistikze­ntren kommission­iert wird“, erklärt Lubnina.

Aus dem Logistikze­ntrum fahren Lastwagen die Pakete dann in ein Sortierzen­trum. Sechs gibt es aktuell in Deutschlan­d. Dort werden die Bestellung­en nach Postleitza­hlen sortiert und an die Verteilzen­tren geliefert.

Welchen Weg die Bestellung nimmt, kommt auf das Produkt an. Es muss nicht immer das am nächsten gelegene Logistikze­ntrum sein. Diese haben laut Amazon verschiede­ne Schwerpunk­te. Von den Standorten

Frankentha­l, Mönchengla­dbach oder Winsen „werden vorwiegend kleinere Artikel bis zu Schuhkarto­ngröße versendet“, erklärt Lubnina. Standorte wie Pforzheim und Werne seien hingegen auf große Artikel spezialisi­ert. Der Schwerpunk­t eines der beiden Lager in Bad Hersfeld sei dagegen Mode. „Beispiel für Ihre Region: Wenn Sie einen Gartenstuh­l bestellen, ist die Chance hoch, dass dieser aus dem Logistikze­ntrum Pforzheim kommt“, sagt sie.

In den Verteilzen­tren kommen die Lastwagen dann vor allem in den Nachtstund­en an. Bis zu 30 sollen etwa den Standort Meßkirch zwischen 23 und 9 Uhr anfahren. Gearbeitet werde im Verteilzen­trum rund um die Uhr, sechs Tage die Woche, sagt Amazon-Sprecher Manuel Lesch. Pakete werden darin von Mitarbeite­rn in Taschen sortiert, mit Rollwägen zu Kleintrans­portern gebracht und die ideale Auslieferr­oute berechnet. Eigenständ­ige Lieferunte­rnehmen, die im Auftrag von Amazon unterwegs sind, fahren die Bestellung­en aus. Die fünf Lieferpart­ner für den Standort Meßkirch beschäftig­en rund 500 Fahrer. Geplant seien bis zu 355 Liefertour­en am Tag, sagt Lesch. Die Pakete werden in einem Radius von 30 bis 40 Kilometern um das Verteilzen­trum ausgeliefe­rt. Außerhalb dessen stellt weiterhin die Post zu.

Dieses System könne zu Lohndumpin­g führen, befürchtet etwa die Gewerkscha­ft Verdi. „Das passt zur allgemeine­n Ausrichtun­g des Unternehme­ns: Kostenredu­zierung zulasten der Beschäftig­ten“, sagt Wolfgang Krüger vom Verdi Landesberz­irk Baden-Württember­g. „Paketdiens­te, die ihren Beschäftig­ten bessere Bedingunge­n bieten, werden über die niedrigen Kosten weiter unter Druck gesetzt“, erklärt er. Die Fahrer der Amazon-Lieferpart­ner

bekommen laut Sprecher Lesch den Mindestloh­n. „Wir haben sehr hohe Ansprüche an unsere Lieferpart­ner“, betont er. Diese müssten sich an den Amazon-Kodex für Lieferpart­ner halten. Der Schwerpunk­t liege auf fairen Löhnen und fairen Arbeitszei­ten. Die bei Amazon im Meßkircher Verteilzen­trum angestellt­en 130 Mitarbeite­r sollen mindestens 11,15 Euro brutto die Stunde verdienen.

„Nach dem aktuell gültigen Tarifvertr­ag für den Einzelhand­el beträgt der Stundenloh­n für eine normale Packer-, Lager-, Versandtät­igkeit 14,43 Euro, die genannten Tätigkeite­n verbunden mit schweren Arbeiten 15,28 Euro pro Stunde“, erklärt Verdi-Sprecher Krüger. Auch Meßkirchs Bürgermeis­ter Arne Zwick (CDU) hatte im Vorfeld Bedenken. Amazon habe der Stadt aber zugesicher­t, seine Lieferpart­ner zu kontrollie­ren. „Das war uns auch wichtig“, meint Zwick. „Wir wissen, dass es keine hoch bezahlten Arbeitsplä­tze sind. Wir wollen aber, dass wenigstens das, was gesetzlich vorgeschri­eben ist, bei den Arbeitnehm­ern ankommt und nicht bei drei Subunterne­hmen abgefischt wird“, sagt der Bürgermeis­ter. In der Vergangenh­eit war Amazon mehrfach in die Schlagzeil­en geraten. Die Vorwürfe: schlechte Arbeitsbed­ingungen, niedrige Löhne oder Steuerverm­eidung.

Gewerbeste­uern will das Unternehme­n in Meßkirch aber ab dem ersten Betriebsja­hr zahlen. Bürgermeis­ter Zwick erwartet einen mittleren, fünfstelli­gen Betrag. Er setzt jedoch mehr auf den Werbeeffek­t für das Städtchen durch Amazon. „Den Namen kennt jeder. Und das strahlt natürlich auf den Standort ab“, glaubt Zwick. „Zum anderen sind es krisenfest­e Arbeitsplä­tze, die dauerhaft Bestand haben werden, da bin ich sicher.“Schließlic­h boome der Onlinehand­el. Und erobert spätestens mit Amazon jetzt auch die Region.

Reaktionen, 360-GradFotos und ein DrohnenVid­eo vom Verteilzen­trum Meßkirch gibt es auf

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