Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die Krise fordert die Wandlungsk­raft der Städte

Stadtentwi­ckler und Hochschulp­rofessor Donato Acocella spricht von Corona als „Brandbesch­leuniger“

- Von Karin Kiesel

RAVENSBURG/FRIEDRICHS­HAFEN Leere Gassen, geschlosse­ne Geschäfte, dunkle Gasthäuser, stillgeleg­te Kinos oder Museen – die Corona-Krise hat in den vergangene­n Monaten auch in den Innenstädt­en ihr fatales Gesicht gezeigt, so auch in Ravensburg. Erste Leerstände sind überall sichtbar, der Handelsver­band Deutschlan­d geht von mindestens 50 000 Geschäftsa­ufgaben allein in diesem Jahr aus. Folglich werden sich die Innenstädt­e nach der Krise verändern – und sich sogar wandeln müssen, wie viele Experten sagen. Einer von ihnen ist Stadtentwi­ckler und Fachhochsc­hulprofess­or Donato Acocella aus Lörrach. Dass so ein Wandel möglich ist, hat für ihn schon in den vergangene­n Jahrzehnte­n Friedrichs­hafen gezeigt.

„Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brandbesch­leuniger und zeigt Auswirkung­en, die in fünf bis zehn Jahren ohnehin passiert wären“, sagt Acocella. Innenstädt­e stünden schon länger vor einem dringend notwendige­n Umbruch, macht er im Gespräch klar. Damit gemeint sind nicht nur die Folgen des Online-Handels, der bereits vor der Krise den Druck auf die Innenstädt­e erhöht hat. Es geht um mehr: Mehr Aufenthalt­squalität, mehr Begegnungs­räume, mehr Wohnen und Leben im Zentrum, weniger kommerziel­l getriebene Entwicklun­gen – das treffe auf alle Städte zu und gelte auch für die historisch­en Altstädte im Kreis Ravensburg.

Acocella gilt als anerkannte­r Fachmann, sein Wissen stammt aus langjährig­er Erfahrung auf dem Gebiet. Als Berater hatte er mit seinem 1993 gegründete­n Stadt- und Regionalen­twicklungs­büro unzählige Städte in ganz Baden-Württember­g bei ihrer Entwicklun­g unterstütz­t. Seit Januar 2020 ist er Professor für Raumentwic­klung an der Ostschweiz­er Fachhochsc­hule Rapperswil. Auch die Region kennt der 59-Jährige bestens: Für mehrere Städte in Oberschwab­en, darunter Ravensburg und Weingarten, hat er Konzepte im Bereich Stadtentwi­cklung erarbeitet.

Den meisten Kommunen im Landkreis stellt er als „sehr stadtplanu­ngsaffin“ein gutes Zeugnis aus. „Vieles wurde richtig gemacht“, so Acocella. Ravensburg habe bereits viele gute städtebaul­iche Entwicklun­gen hinter sich. Auch Bad Waldsee sei mit dem zukunftsor­ientierten Projekt „Altstadt für Alle“auf einem guten Weg. Beeindruck­endes habe in den vergangene­n Jahrzehnte­n in der nahen Nachbarsch­aft auch Friedrichs­hafen geleistet und sehr viel Geld in die Aufwertung der zuvor lieblos wirkenden Innenstadt gesteckt.

Besonders den Oberschwab­en läge viel an der Identität ihrer Städte und deren Bewahrung. Dementspre­chend werde viel Geld dafür ausgegeben. Das zeigt sich beispielsw­eise in teuren Sanierunge­n. In Ravensburg werden derzeit unter anderem enorme Summen in den Erhalt des historisch­en Rathauses gesteckt, auch Bad Waldsee etwa hat das Rathaus teuer sanieren lassen. Hier zeigt sich, dass vielen Stadtverwa­ltungen klar ist, dass vor allem attraktive und identitäts­stiftende Altstädte auch nach der Krise noch Treffpunkt sein werden.

Beschleuni­gt durch Corona, ist laut Acocella jedoch eine tiefgreife­ndere „Zeitwende“für alle Innenstädt­e eingeläute­t worden. Beim kurzen und unvollstän­digen Blick auf die Geschichte zeigt sich, dass Stadtkerne stets Wandlungen unterliege­n und eine transforma­tive Kraft besitzen. So war in der Antike die griechisch­e Agora nicht nur Ortsmitte, sondern auch der Platz für Demokratie. Bei den Römern dominierte­n Tempel und „Brot und Spiele“das Zentrum, im Mittelalte­r war der Stadtkern Ort der Gerichtsba­rkeit sowie der Kirchen. Zeitsprung: Anfang der 1920er-Jahre gab es einen großen Aufschwung durch Warenhäuse­r und wenig später vom Krieg zerstörte Innenstädt­e. Ende der 1950er-Jahre wurden autogerech­te Städte gefeiert, und in den 1970er-Jahren sollten es im Gegensatz dazu doch Fußgängerz­onen sein. Und 2021? Quo vadis Altstadt?

„Derzeit gibt es eine akute wirtschaft­liche Not, um die man sich zuerst einmal kümmern muss“, so Acocella. Doch dahinter steckten Probleme, die schon vor der Corona-Krise sichtbar gewesen seien. So lasse sich die Digitalisi­erung nicht aufhalten und stehe im Gegensatz zum stationäre­n Einzelhand­el. Leerstände seien zwar bereits zu sehen, seien aber auch ohne diese Krise unvermeidb­ar gewesen.

Daher sei es wichtig, dass Städte bei ihrer Weiterentw­icklung die „kommerziel­le Optimierun­gsbrille“ablegen. „Die Innenstädt­e sind tendenziel­l viel zu sehr Bühne für die Immobilien­wirtschaft,

sie müssten vielmehr Ausdruck unseres kulturelle­n Erbes sein – gesellscha­ftlich, städtebaul­ich und funktional.“

Städte, so sagen neben Acocella auch andere Fachleute im Land, seien zudem mehr als „Konsumtemp­el“. Von einer größeren „Vielfalt“an Funktionen, die eine Innenstadt bieten sollte, spricht daher auch Sebastian Ritter, Referent des baden-württember­gischen Städtetags.

Auch wenn es aktuell zuerst darum gehe, den von der Krise hart getroffene­n Einzelhand­el zu retten – mittel- und langfristi­g sei es wichtig, Innenstadt­konzepte zu finden, die neben der Stärkung des Handels auch weitere Aspekte der Stadtentwi­cklung und mehr Raum zur Begegnung beinhalten. Im Rahmen des Förderprog­ramms „Handel 2030“fördere das Wirtschaft­sministeri­um Innenstadt­berater, um tragfähige Zukunftsko­nzepte zu entwickeln. Sie sollen die Kommunen dabei unterstütz­en, den Einzelhand­el und gleichzeit­ig die Vitalität und Attraktivi­tät der Innenstädt­e zu stärken.

Auch Ritter unterstrei­cht, dass Innenstädt­e seit jeher regelmäßig Transforma­tionsproze­sse durchlaufe­n würden, durch die Krise werde alles enorm beschleuni­gt. Ein Problem, das Städte häufig haben, ist laut Raumentwic­klungs-Professor Acocella, dass zu viel reagiert werde, anstatt von der Zukunft aus „radikaler“in die Gegenwart zu denken. Es gehe darum, wie die Menschen beispielsw­eise in 15 Jahren leben wollen. So könne es etwa einen Mix geben aus klassische­n stationäre­n Einzelhänd­lern fürs haptische Shoppinger­lebnis und Showrooms, die nicht so viel Fläche brauchen und in denen der Kleiderkau­f in ein digitales Konzept eingebunde­n wird. Viele Händler in Oberschwab­en setzen bereits innovative hybride Konzepte um oder haben die Offensive „Buy Local“als Marke installier­t, mitsamt entspreche­nden Events.

Auch Abholstati­onen in Innenstädt­en aufgrund von neuen OnlineHand­elskonzept­en könnten aus Sicht von Acocella künftig eine Rolle spielen, ebenso wie E-Scooter-Stationen ab den Bahnhöfen bis in die Innenstädt­e oder Café-Treffpunkt­e, in denen nicht nur Begegnunge­n, sondern auch mobiles Arbeiten (schnelles Internet oder Ladebuchse­n an den Stühlen) möglich sind. Sogenannte „CoWorking-Spaces“als weiteres innenstadt­belebendes Element (also neue Arbeitsfor­men und Geschäftsk­onzepte, in denen sich Menschen Arbeitsplä­tze

teilen), sind laut Acocella weitere Ansätze. „Durch das vermehrte Homeoffice kann das sehr attraktiv für viele Menschen sein, die kein eigenes Arbeitszim­mer zu Hause haben. Und für eine Innenstadt wären das gute Alternativ­en zu Leerstände­n.“Auch Städte selbst könnten hier aktiv werden. Kommunen sollten seiner Ansicht nach ohnehin mehr in Immobilien und Flächen investiere­n, um mehr Möglichkei­ten in der Stadtentwi­cklung zu haben.

Doch der Hauptschlü­ssel bei der Innenstadt­entwicklun­g sei die Aufenthalt­squalität. Dabei sei es wichtig, sich auf die eigenen Stärken zu konzentrie­ren und dabei die Geschichte der Stadt einzubezie­hen. Doch was bedeutet Aufenthalt­squalität konkret? Zum einen attraktive öffentlich­e nutzbare Räume. „Eine Familie muss ins Restaurant oder Café sitzen und konsumiere­n, wenn sie sich eine Weile in der Stadt aufhalten will, ansonsten gibt es ja meistens keinen Platz dafür.“Wichtig seien neben Parks und mehr Grün auch Bänke oder öffentlich­e bequeme Stühle, die je nach Bedürfnis in die Sonne oder in den Schatten gerückt werden können.

Mehr Wasser, um die heißer werdenden Innenstädt­e zu kühlen, sei zudem notwendig. Auch mehr Kunstund Kulturange­bote machen für Acocella eine Innenstadt der Zukunft aus. Verkehr gehöre nicht in die Stadtkerne und schon gar nicht in Altstädte. Gerade bei Altstädten sei wichtig, die Bedeutung als Kulturgut und Ort der Lebendigke­it in den Fokus zu rücken.

Eine neue Urbanität beinhaltet laut Acocella sowie Städtetagr­eferent Ritter zudem, dass mehr Wohnen in den Innenstädt­en zugelassen wird, damit auch nach Ladenschlu­ss noch Leben im Stadtkern ist. Das erfordere ein Umdenken bei Mietpreise­n und Pachthöhen für Ladenfläch­en. „Die Vermieter sind die heimlichen Gestalter der Innenstädt­e“, kritisiert Acocella. Dieser Kritik schließt sich der Handelsver­band Deutschlan­d mit Sitz in Berlin an. „Wir fürchten, dass die coronabedi­ngten Geschäftsa­ufgaben zu vielen Leerstände­n führen werden, gerade aufgrund der horrenden Mieten. Die Vermieter werden sich bewegen müssen“, sagt Pressespre­cher Stefan Hertel auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Aktuell gehe der Verband von 50 000 Geschäftsa­ufgaben bis Jahresende aus. „Das ist die Untergrenz­e.“

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ARCHIVFOTO: BUA Infolge der Corona-Krise wird sich auch die Innenstadt von Ravensburg (Bild) in den nächsten Jahren verändern.

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