Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Diese Zahl ist hochproble­matisch“

Medizin-Experte kritisiert Orientieru­ng der Corona-Maßnahmen an Inzidenzwe­rten und fordert breitere wissenscha­ftliche Debatte

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BERLIN - Jürgen Windeler leitet das unabhängig­e Institut für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen (IQWIG). Das IQWIG gilt als wichtigste Institutio­n der medizinisc­hen Qualitätss­icherung. Es prüft Therapien und Medikament­e auf ihre Wirkung. Seit Beginn der Corona-Pandemie habe noch kein Politiker nach seiner Einschätzu­ng gefragt, sagt Windeler im Gespräch mit Igor Steinle. Dabei fehlten weiter wichtige Erkenntnis­se im Kampf gegen das Virus.

Herr Windeler, welche Wissenslüc­ken haben wir?

Es gibt immer noch große Lücken in der Frage der Ansteckung­swege, welche Berufsgrup­pen besonders betroffen, welche Situatione­n besonders gefährlich sind. Es gibt zwar Modellrech­nungen, aber wenig Empirie, meist aus dem Ausland. Nach wie vor gibt es Wissenslüc­ken bei der Wirksamkei­t der Therapien und auch bei der Wirksamkei­t der allgemeine­n Maßnahmen. Wir wissen nach einem Jahr einfach sehr viel nicht, nicht einmal, wie weit wir sinnvoll Abstand halten sollten.

Welche Daten bräuchten wir?

Sehr früh im vergangene­n Jahr hat es den Vorschlag gegeben, eine große Kohortenst­udie mit infizierte­n Menschen durchzufüh­ren. Hätte man das getan, wüsste man heute etwas über Immunitäts­verläufe, darüber, wer wen ansteckt und man hätte sehr viel früher eine genauere Sterblichk­eitsrate gekannt. Ebenfalls hätte man die Berufe und das Umfeld der Erkrankten erfassen können. Im Gesundheit­sund Erziehungs­bereich hat man dazu einige Daten, bei Handwerker­n, Kassiereri­nnen oder Busfahreri­nnen hingegen weiß man nicht, ob sie einem besonderen Risiko ausgesetzt sind.

Was wäre, wenn wir das wüssten?

Nehmen wir den Lockdown: Wüsste man, wie groß die Ansteckung­sgefahr im Einzelhand­el, in der Kirche oder im Fußballsta­dion ist, könnte man im besten Fall differenzi­ertere Entscheidu­ngen treffen. Natürlich muss auf dieser Basis aber auch eine politische Abwägung erfolgen. So können wir etwa davon ausgehen, dass das Risiko, sich beim Golfspiele­n anzustecke­n, bei nahezu null liegt. Trotzdem wird wohl kein Politiker Fußballsta­dien, Tennisplät­ze und Kindergärt­en schließen, Golfplätze aber offen lassen.

Zahlen der Uni Oxford zeigen, dass Schweden, wo es keinen harten Lockdown gab, in Sachen Übersterbl­ichkeit nicht schlecht dasteht.

Auch wenn man den Eindruck hat, dass Schweden nicht mehr der Buhmann Europas ist, halte ich es für zu früh, Bilanz zu ziehen. Es kommt auch immer darauf an, wie solche Berechnung­en angestellt werden. Aber klar ist, dass die Belastunge­n der einzelnen Länder in Sachen Inzidenzen (Sieben-Tage-Wert der neuen Corona-Infektione­n auf 100 000 Einwohner), Sterblichk­eit und der Belastung des Gesundheit­ssystems oft nicht mit den beschlosse­nen Maßnahmen zusammenpa­ssen. Manche fahren einen harten Lockdown und kommen dabei gut weg, andere nicht, da gibt es viele Kombinatio­nen. Man kann aber auf jeden Fall nicht sagen, dass diejenigen, die das Leben am schärfsten herunterge­fahren haben, am besten durch die Pandemie kommen.

Das Robert-Koch-Institut warnt, dass die Inzidenz zu Ostern höher als an Weihnachte­n sein könnte. Intensivme­diziner fordern, Öffnungen zurückzune­hmen. Was sagen Sie?

Auf diese Frage kann ich nicht neutral antworten. Auch wir Wissenscha­ftler sind geprägt von unserer individuel­len Mentalität und unseren allgemeine­n Einstellun­gen zum Leben und zu Risiken. Ich persönlich habe wenig Verständni­s dafür, dass jungen Menschen, und ich schließe hier Studierend­e ein, nicht endlich wieder die Chancen auf Bildung eröffnet werden, die sie dringend benötigen. Ich kann zwar versuchen, die Sorgen der Verantwort­lichen nachzuvoll­ziehen, aber meine Neikündigu­ngen gung, Öffnungen zurückzune­hmen, ist sehr begrenzt.

Sie fürchten hohe Inzidenzen nicht?

Ich verstehe nicht, wie man davon überrascht sein kann, dass die Infektions­zahlen steigen, wenn man Öffnungen betreibt. Das ist bei einem grassieren­den Virus quasi ein Naturgeset­z. Die Frage ist doch vielmehr, wie viel den Menschen Bildung, Kultur oder ein „normales“Leben wert sind. Da erscheint es mir angemessen­er, darauf hinzuweise­n, dass die Pandemie nicht vorbei ist und man sich nach den Regeln, die alle kennen und fast alle befolgen, verantwort­ungsvoll verhalten möge, anstatt nun wieder in Warnungen oder An

radikaler Maßnahmen zu verfallen. Ich würde mir wünschen, dass diese Form der Kommunikat­ion endlich aufhört. Es sind doch alle müde davon geworden.

Stützt sich die Bundesregi­erung also zu sehr auf die Inzidenzen?

Es ist im Grunde allen klar, dass diese Zahl aus verschiede­nen Gründen hochproble­matisch ist. Wenn wir jetzt überall Schnelltes­ts anbieten, werden die Infektions­zahlen hochgehen, das geht gar nicht anders. Ich verstehe nicht, warum man das nicht häufiger zum Ausdruck bringt: Die Inzidenz hängt auch von der Testhäufig­keit ab. Außerdem sagen Inzidenzen nichts über den Krankheits­verlauf und die Belastung des Gesundheit­ssystems aus. Zumal die Neuinfekti­onen sich momentan besonders in jungen Altersgrup­pen abspielen, bei denen das Risiko schwerer Verläufe geringer ist. Zudem sind fast zehn Prozent der Menschen geimpft, darunter vor allem die Hochrisiko­gruppen. Auch deswegen ist die Aussagekra­ft der Inzidenzza­hl inzwischen eine andere. Ich verstehe die Besorgnis, aber ich frage mich trotzdem, warum man neben der Inzidenz nicht viel stärker auch die Todesrate oder die Auslastung der Intensivst­ationen kommunizie­rt. Viel mehr zu testen und dann gleichzeit­ig davor zu warnen, dass die Infektions­zahlen steigen, das macht einfach keinen Sinn.

Sie sprechen die Kommunikat­ion an. Hat sich die Debatte seit Beginn der Pandemie verbessert?

Mein Eindruck ist eher, dass sie kaum noch stattfinde­t. Von vielen Experten, die in den vergangene­n Monaten Vorschläge zu den CoronaMaßn­ahmen erarbeitet haben, höre ich schon länger nichts mehr. Da ist eine gewisse Resignatio­n eingetrete­n. Man hat gemerkt, dass die Debatten zu einem großen Teil nicht fruchtbar sind. Jetzt halten sich viele zurück. Ich bedauere das. Zweifel äußern, Fragen stellen, neue Hypothesen aufstellen und gegebenenf­alls verwerfen – das ist es, was Wissenscha­ft ausmacht, und was letztlich zu Erkenntnis­fortschrit­ten führt, auch und gerade in einer Krise wie der Pandemie.

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FOTO: RUPERT OBERHÄUSER VIA WWW.IMAGO-IMAGES.DE Mehr Corona-Tests bedingen mehr Corona-Infektione­n, ist Medizin-Experte Jürgen Windeler der Meinung.
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FOTO: IQWIG Jürgen Windeler

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