Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Infektions­zahlen bei Kindern und Jugendlich­en steigen

Experten vermuten hinter dieser Entwicklun­g die britische Corona-Mutante

- Von Christina Mikalo

Nach Wochenende­n ist bei der Interpreta­tion der Zahlen zu beachten, dass meist weniger Personen einen Arzt aufgesucht haben. Dadurch wurden weniger Proben genommen. Zum anderen kann es sein, dass nicht alle Gesundheit­sämter an allen Tagen Daten an das Robert-Koch-Institut übermittel­t haben. In der Tabelle werden die zu Redaktions­schluss neuesten verfügbare­n Zahlen angegeben. Dadurch kann es zu Abweichung­en zu nationalen und lokalen Zahlen kommen. Die 7-Tage-Inzidenz bildet die Fälle pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen ab. Quellen: Robert-Koch-Institut von Mittwoch, 8.40 Uhr; Landesgesu­ndheitsamt BadenWürtt­emberg von Mittwoch, 16 Uhr; Bayerische­s Landesamt für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it von Mittwoch, 8 Uhr.

ULM - Schulen und Kitas haben in Baden-Württember­g und Bayern seit Anfang der Woche wieder geöffnet. Doch eines dürfte die Freude darüber bei vielen Kindern, Eltern, Lehrkräfte­n und Erziehern trüben: Derzeit breitet sich in ganz Deutschlan­d die britische Corona-Variante B.1.1.7 aus. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) macht die Mutation bereits die Hälfte aller Neuinfekti­onen hierzuland­e aus.

Das macht Experten wie dem Chef des RKIs, Lothar Wieler, Sorgen. Denn gleichzeit­ig steige die Inzidenz bei Menschen unter 15 Jahren seit Mitte Februar „sehr rasant“an. Auch gebe es mehr Ausbrüche in Kitas als noch vor Weihnachte­n. Wieler vermutet, dass die britische Variante dabei eine Rolle spielt: Sie gilt im Vergleich mit dem ursprüngli­chen Wildtypus als gefährlich­er.

Was macht die Variante so bedrohlich?

B.1.1.7 ist nach Meinung vieler Experten ansteckend­er. Laut derzeitige­n Erkenntnis­sen liegt das an Veränderun­gen des Spike-Proteins, mit dem das Virus im Fall einer Infektion in die Körperzell­en eindringt.

Die Mutationen führen dazu, dass sich das Virus fester an einen bestimmten Rezeptor der Zellen binden kann. So verdrängt B.1.1.7 andere Virusvaria­nten wie etwa den SarsCoV-2-Wildtyp.

„Dadurch wird die Mutante effektiver zwischen Menschen übertragen“, erklärt der Virologe Thomas Mertens von der Universitä­t Ulm. Sie verbreitet sich also extrem schnell, auch von Land zu Land. Einem Bericht der britischen Gesundheit­sbehörde zufolge wurde die Mutation erstmals im September 2020 bei Patienten aus Großbritan­nien beschriebe­n. Von dort habe sie sich rasch nach Dänemark und weiter nach Deutschlan­d verbreitet, wo sie seit Mitte März dominant ist. So enthalten Berichten des RKI zufolge mittlerwei­le 55 Prozent der untersucht­en Proben die britische Variante – ein Anstieg von ganzen 33 Prozent gegenüber dem Monatsanfa­ng.

Laut Mertens ist das vor allem deshalb besorgnise­rregend, weil die Mutation mit eher schwereren Krankheits­verläufen verbunden zu sein scheint. Eine Mitte März veröffentl­ichte Studie der Universitä­t von Exeter kam zu dem Schluss, dass B.1.1.7 sogar tödlicher ist als der Wildtyp. In 4,1 von tausend Fällen führe eine Infektion mit B.1.1.7 zum

Tod, beim Wildtyp sind es den Daten zufolge 2,5 von tausend Fällen.

Wieso sind offenbar vor allem Minderjähr­ige in Gefahr?

Dazu gibt es mehrere mögliche Gründe. Generell lässt sich die Gefahr einer Übertragun­g von B.1.1.7 durch die bekannten Schutzmaßn­ahmen wie Abstandhal­ten, Lüften und Hygienereg­eln verringern. Mertens zufolge sind diese Regeln aber unter Kindern und Jugendlich­en schwerer durchzuset­zen. Zumal in Baden-Württember­g etwa Grundschül­er von der Maskenpfli­cht befreit sind.

Was Experten ebenfalls beunruhigt: Anders als Erwachsene zeigen viele mit Sars-CoV-2 infizierte Kinder keine Symptome. Und tun sie das doch, sind diese meist unspezifis­ch und werden leicht falsch gedeutet, wodurch eine Infektion zum Teil gar nicht oder erst spät bemerkt wird.

So leiden mit dem Virus infizierte Kinder vor allem an Fieber, Husten und Halsschmer­zen, mitunter auch an Bauchschme­rzen. Bei Jugendlich­en ähnelt das Krankheits­bild eher dem von Erwachsene­n. Es kann zu Fieber, Gliedersch­merzen und oft zu einer Geruchs- und Geschmacks­störung kommen.

Bei manchen an Covid-19 erkrankten Kindern kann eine verzögerte Fehlreakti­on des Immunsyste­ms sogar zu einem schweren Krankheits­verlauf führen. Zwei bis vier Wochen nach der Infektion werden die Betroffene­n dann so krank, dass sie teilweise auf der Intensivst­ation versorgt werden müssen.

Das Krankheits­bild ähnelt dabei dem sogenannte­n Kawasaki-Syndrom, einer seltenen Erkrankung bei Kleinkinde­rn: Die Patienten haben hohes Fieber, Schleimhau­tentzündun­gen, Lymphknote­nschwellun­g, Hautaussch­lag und gerötete Hände. Bei Covid-19 treten diese Phänomene zum Teil auch bei deutlich älteren Kindern auf.

Auch das Phänomen des sogenannte­n Long Covid, also erhebliche gesundheit­liche Einschränk­ungen trotz erfolgreic­h überstande­ner Covid-Erkrankung, rücken bei Wissenscha­ftlern mit Blick auf jüngere Menschen immer mehr in den Fokus.

Wie sollten Kitas und Schulen jetzt am besten reagieren?

Grundsätzl­ich ist noch unklar, inwieweit Kitas und Schulen zum Infektions­geschehen beitragen. In einigen Regionen wie beispielsw­eise Münster in Nordrhein-Westfalen sei ein Infektions­anstieg bereits vor den Schulöffnu­ngen festgestel­lt worden, schreibt die „Süddeutsch­e Zeitung“.

Trotzdem mahnen die Experten zu Vorsicht. „Wenn man Übertragun­gen in der Schule vermeiden will, muss man die Maßnahmen strenger einhalten“, betont Mertens. Also: streng darauf achten, dass alle Kinder und Jugendlich­en Masken tragen, Abstand halten und sich regelmäßig die Hände waschen und desinfizie­ren. Lehrer und Erzieher sollten dies kontrollie­ren und für eine gute Durchlüftu­ng der Räume sorgen.

Zudem wird immer wieder darauf verwiesen, dass an Schulen häufiger Corona-Schnelltes­ts durchgefüh­rt werden müssten. Das niedrigsch­wellige Testen gilt als wichtiger Faktor für die Öffnung der Schulen.

Andere Experten pochen auf eine Impfung. Anders als bei anderen Mutationen des Virus wirken bei B 1.1.7 die bisher zugelassen­en Vakzine. Doch bislang ist nur ein Impfstoff – der von Biontech/Pfizer – ab 16 Jahren zugelassen. Für Jüngere gibt es noch keinen Schutz. Erste Studien an Kindern unter zwölf Jahren haben nun aber begonnen.

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Schüler der Klassen 1 bis 6 lernen wieder in der Schule, obwohl sich die gefährlich­e Virusmutat­ion B.1.1.7 ausbreitet. Darüber sind Eltern, Experten und Lehrer gleicherma­ßen besorgt.
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FOTO: PRIVAT Thomas Mertens

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