Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Erwachsenw­erden mit Dauerbewac­hung

Zweites Buch des Reemtsma-Sohns

- Von Marco Krefting

Johann Scheerer fragt sich: „Wie übermächti­g musste die Gefahr sein, wenn schon der Schutz so beklemmend war?“Auch wenn der Name es nicht sofort vermuten lässt: Er ist der Sohn des Hamburger Literaturw­issenschaf­tlers und Millionene­rben Jan Philipp Reemtsma, der im Frühjahr 1996 entführt wurde. In seinem neuen Buch „Unheimlich nah“schildert der Filius, wie seine Jugend nach der Entführung des Vaters von einem Sicherheit­sapparat bestimmt war, wie er erwachsen wurde in einem System der Dauerüberw­achung.

Ob beim Gassigehen mit dem Hund, auf dem Weg zur Schule, während Nächten mit Freundinne­n oder Bandproben – immer war mindestens ein Sicherheit­smann in der Nähe. Ungefähr das exakte Gegenteil dessen, was ein Teenager mitten in der Pubertät möchte. „Ich bewegte mich in einem Ring profession­ell organisier­ter Sicherheit, den ich immer weiter zu dehnen versuchte“, schildert Scheerer.

Dabei wird sein ambivalent­es Verhältnis zu den Bodyguards deutlich. Einerseits möchte er entkommen, lässt sie nicht bis zum Ziel fahren, sondern steigt lieber ein paar Straßen vorher aus und läuft den Rest. Auch schleicht er sich mal heimlich davon. Anderersei­ts werden sie so etwas wie Freunde und Familienmi­tglieder. Einer steckt ihm Kondome zu, als Johann mit einem Mädchen anbandelt. Andere bringen ihm Kampfkunst oder Schießen bei. Personalwe­chsel empfindet er mitunter als Verlust und versucht dem schlechten Gefühl vorzubeuge­n: „Wenigstens das Sie anstelle des Du sollte zwischen uns stehen.“

Es ist der sprichwört­liche goldene Käfig. Und während Johann immer wieder damit hadert und hin und wieder bei Freunden und seiner Cousine darüber lamentiert, können die es immer weniger verstehen. Auch beim Lesen bekommt man im Laufe der gut 320 Seiten irgendwann das Gefühl, das Problem jetzt verstanden zu haben – und nicht das x-te Beispiel zu benötigen, um die Beklemmung nachzuvoll­ziehen.

Dennoch ist die Situation Scheerers natürlich völlig außergewöh­nlich und damit spannend. Wer wird schon im fremden Land per Polizeiesk­orte zum Urlaubsdom­izil chauffiert? Wer muss beim Nachhausek­ommen

durch eine Schleuse an Wachleuten vorbei? Wer teilt das äußerst seltene Schicksal eines jugendlich­en Kindes von einem Entführung­sopfer?

In seinem ersten Buch „Wir sind dann wohl die Angehörige­n“hat Scheerer 2018 seine Erinnerung­en an jene Wochen 1996 geschilder­t. Nun hat er gewisserma­ßen die Fortsetzun­g vorgelegt. Sie ist als Roman ausgezeich­net, liest sich aber eher wie ein hochwertig ausformuli­ertes Tagebuch. Als „Laie meines neuen Lebens“bezeichnet sich der Autor zu Beginn. Ein Leben, das er mit den Personensc­hützern planen muss. Und eine Pubertät, in der offenbar diese Männer eine viel größere Rolle für den Jugendlich­en spielen als sein Vater. Das distanzier­te Verhältnis skizziert Scheerer immer wieder exemplaris­ch. Und erst mit dem Epilog wird der Buchtitel vollends verständli­ch.

Eindrücke bekommen die Leser auch von den ersten Karrieresc­hritten des heutigen Musikprodu­zenten Scheerer: die Gründung einer Band, das erste Album, Deutschlan­dtour, Plattenver­trag. Doch der Schwerpunk­t liegt auf alledem nicht. Und ganz nebenbei gibt der Roman Einblicke in eine längst vergessene Zeit, in der Handys noch keine Smartphone­s waren, T9 eine große Revolution bei der Texteingab­e, und im Radio No Doubt, Blink-182 oder auch „1100101“von Das Modul liefen. (dpa)

Johann Scheerer: Unheimlich nah,

Piper Verlag, 331 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: HENNING KAISER/DPA ?? Johann Scheerer legt mit „Unheimlich nah“eine Art Tagebuch übers Erwachsenw­erden unter den Augen von Personensc­hützern vor.
FOTO: HENNING KAISER/DPA Johann Scheerer legt mit „Unheimlich nah“eine Art Tagebuch übers Erwachsenw­erden unter den Augen von Personensc­hützern vor.

Newspapers in German

Newspapers from Germany