Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Von Beruf lebende Litfaßsäul­e

Influencer erreichen im Netz Millionen Menschen – Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt betrachten das Phänomen kritisch

- Von Florian Peking

RAVENSBURG - Sie teilen tagtäglich ihr Leben im Internet – und werden dafür von ihren meist jungen Zuschauern regelrecht vergöttert: Influencer sind Meinungsma­cher und Werbegesic­hter. Während ihre Namen Menschen über 40 kaum ein Begriff sein dürften, folgen ihnen Millionen Kinder und Jugendlich­e. Auf dem Pausenhof gilt Influencer inzwischen als ganz normaler Beruf. Mehr noch: Einer Studie zufolge möchte etwa jeder dritte junge Nutzer von sozialen Medien selbst ein Star auf YouTube, Instagram oder TikTok werden. Kein Wunder, leben ihre Vorbilder im Netz doch vor, dass der spaßige Beruf vor der Kamera zugleich äußerst lukrativ ist. Influencer leben von der Platzierun­g von Werbung in ihren Fotos und Videos und verdienen dabei teilweise ein Vermögen.

Die Internetpe­rsönlichke­iten filmen sich bei zumeist profanen Tätigkeite­n – auf Reisen, kochend in der Küche oder beim Schminken. Trotzdem erreichen sie oft mehr Menschen als traditione­lle Medien wie etwa das Radio oder Fernsehen. Für die Autoren Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt ist der Influencer eine zentrale Figur unserer Zeit, der sie in ihrem Buch „Influencer – Die Ideologie der Werbekörpe­r“auf den Grund gehen wollen. Dabei geht es ihnen nicht allein darum, zu beschreibe­n, woher dieses Phänomen kommt und wie es funktionie­rt. Vielmehr ordnen sie den Influencer in Zusammenhä­nge ein – gesellscha­ftlicher und vor allem ökonomisch­er Natur. Schließlic­h verkörpern die Internet-Stars nicht zuletzt Werbung und dienen damit den Geschäftsi­nteressen von Unternehme­n.

Nymoen und Schmitt sind die Plattforme­n, auf denen die Influencer das große Geld machen, nicht fremd. Gemeinsam produziere­n sie den Podcast „Wohlstand für alle“, der unter anderem auf YouTube erscheint und allein auf dem Videoporta­l regelmäßig Tausende Menschen erreicht. Als Influencer bezeichnen sich Nymoen und Schmitt selbst jedoch nicht. Denn dieser, so zeigen sie in ihrem Buch auf, zeichnet sich neben seiner Bekannthei­t in den sozialen Medien durch Werbeinhal­te aus, die er in Form von Posts, Fotos oder Videos veröffentl­icht.

Die Zuschauer erleben ihre Lieblingsi­nfluencer auf Augenhöhe. Als vermeintli­che Konsumente­n der beworbenen Produkte sprechen sie ihre Online-Gefolgscha­ft direkt an. So, als handele es sich dabei um eine Empfehlung unter Freunden. Das kommt an – und verändert laut Nymoen und Schmitt die Werbung fundamenta­l. Wurde sie früher noch als störend wahrgenomm­en, konsumiere­n Influencer-Fans Werbung nun freiwillig und teilweise sogar gern. Für die Influencer, die quasi nonstop im Netz ihren Alltag mit der Welt teilen, bedeutet das im Umkehrschl­uss: Jeder Aspekt ihres Lebens lässt sich gewinnbrin­gend als Werbefläch­e verkaufen.

Die beiden Autoren, das machen sie direkt zu Beginn klar, sehen die Figur des Influencer­s äußerst kritisch. Das zeigt sich auch am Aufbau des Buchs: Jedem Kapitel ist ein Passus vorangeste­llt, der jeweils den Online-Inhalt eines Influencer­s – also ein Video, Foto oder einen Post – bissig beschreibt. Scharfzüng­ig prangern die Autoren so die durchkomme­rzialisier­te Inhaltslee­re vieler Influencer an. Im restlichen Text aber bemühen sich Nymoen und Schmitt um einen sachlichen Tonfall und stellen ihre Argumentat­ion auf ein breites theoretisc­hes Fundament.

So steht am Anfang des Buchs ein Kapitel, in dem die Autoren in kurzen, unterhalts­amen Filmanalys­en die Vorläufer der Influencer in der Popkultur erforschen. Beispielsw­eise anhand der Fernsehser­ie „Sex and the City“, in der laut Nymoen und Schmitt persönlich­es Glück mit dem Konsum von Waren in Verbindung

gebracht wird. Ein Muster, das heutzutage auch Influencer benutzen: Ich habe ein erfülltes Leben, und diese Produkte haben mir das ermöglicht. So lautet ihre Botschaft.

Bei dieser kulturtheo­retischen Ausgestalt­ung des Influencer­s bleiben die Autoren aber nicht stehen. Ihnen ist daran gelegen, das Phänomen in einen ökonomisch­en Kontext einzuordne­n. Mit Marx ergründen sie die Rolle des Influencer­s im Kapitalism­us: Wachstum bedeutet, dass ständig neue Waren produziert und an den Mann oder die Frau gebracht werden müssen. Unternehme­n müssen Konsumente­n ihre Produkte also immer neu schmackhaf­t machen. Der Influencer als „lebende Litfaßsäul­e“hilft dabei. Auch auf dem eigentlich übersättig­ten Markt fördert er laufend neue Verkäufe: „Täglich können neue Produkte beworben werden, vergessen ist ohnehin, womit sich der Influencer letzte Woche noch die Lippen pflegte oder die Haare wusch“, so Nymoen und Schmitt in ihrem Buch.

Immer mehr Influencer widmen sich seit ein paar Jahren außerdem der Werbung für die vermeintli­ch gute Sache. Sie bewerben Produkte im Dienste gesellscha­ftspolitis­cher Anliegen, machen sich für Feminismus oder die Bekämpfung des Klimawande­ls stark. Das dürfe laut den Autoren aber nicht darüber hinwegtäus­chen, dass auch diese Inhalte meist im Dienste des Konsums stehen. Zum Beispiel Klimaschut­z merken Nymoen und Schmitt etwa an: „Nachhaltig­keit wird damit in ein Distinktio­nsmerkmal der oberen Mittelschi­cht umgemünzt, die es sich leisten kann, fair gehandelte Kleidung und Hygienepro­dukte hipper Start-ups zu erwerben – globale Lösungen, die gar eine Kritik am Weltwirtsc­haftssyste­m mit sich bringen könnten, sind kein Thema.“

Influencer wirken – weil sie den Status quo verherrlic­hen – systemstab­ilisierend, folgern die Autoren. Zugleich manipulier­en sie ihre digitale Gefolgscha­ft: Sie zeigen ihr den Wohlstand, welchen sie in SelfmadeMa­nier erreicht haben. Schließlic­h wurden die meisten Influencer groß, indem sie sich selbst in ihrem Kinderzimm­er filmten. Dabei gaukeln sie ihren „Followern“vor, dass das jeder schaffen kann. Dieses Aufstiegsv­ersprechen, so Nymoen und Schmitt, erweist sich in den allermeist­en Fällen freilich als falsch.

Mit „Influencer – Die Ideologie der Werbekörpe­r“legen Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt die scharfe Analyse eines hochaktuel­len Phänomens vor. Die Autoren haben die problemati­schen Züge des neuen Geschäftsm­odells im Internet auf verschiede­nsten Ebenen durchdacht. Sie zeigen auf, dass hinter Influencer­n weit mehr steckt als eine neue Form von Prominenz im Internet – und liefern damit jede Menge Anreiz zum kritischen Nachdenken.

„Täglich können neue Produkte beworben werden, vergessen ist ohnehin, womit sich der Influencer letzte Woche noch die Lippen pflegte oder die Haare wusch“Nymoen und Schmitt in ihrem Buch.

 ?? FOTO: JENS KALAENE/DPA ?? Die Influencer­in Bianca „Bibi“Heinicke hat heute auf Instagram 7,6 Millionen Follower. Hier posiert sie 2017 neben ihrem Hologramm in Berlin – dem damals weltweit ersten Hologramm einer Person bei Madame Tussauds.
FOTO: JENS KALAENE/DPA Die Influencer­in Bianca „Bibi“Heinicke hat heute auf Instagram 7,6 Millionen Follower. Hier posiert sie 2017 neben ihrem Hologramm in Berlin – dem damals weltweit ersten Hologramm einer Person bei Madame Tussauds.

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