Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Was mir nicht gehört, interessiert mich nicht
Wer zur Zeit des Eisernen Vorhangs in die Staaten des Ostblocks reiste, traf dort in den Städten auf recht vernachlässigte Straßenzüge. Kein Wunder, dachte man sich als Westdeutscher damals. Den Leuten gehört hier ja nichts. Warum sollte es sie also kümmern, wie es in ihren Städten aussieht?
Falls diese Einschätzung richtig gewesen sein sollte, darf man sie auch zu Ende denken. Denn sie bedeutet, dass das Interesse in Deutschland bis an die Grenzen des jeweiligen Besitzes reicht. Am Rand der eigenen vier Wände ist Schluss. So sieht es oft tatsächlich aus: Um Güter in gemeinschaftlichem Besitz ist es schlecht bestellt – von der Rasenfläche rund ums Miethaus bis zum öffentlichen Parkplatz, auf dem kein einziger Baum steht. Das alles gehört einem ja nicht. Zumindest nicht allein.
Wenn man heute durch Friedrichshafen mit demselben Blick läuft wie damals durch den Ostblock,
kommt man daher nur zu graduell anderen Ergebnissen. Der Grad der Verschiebung besteht darin, dass die öffentlichen Zonen zwar nicht verwahrlost, aber in ihrer Gestaltung oft verödet sind. Damit gar nicht erst verwahrlosen kann, wofür niemand sich verantwortlich fühlt, wird die Verödung vorsätzlich herbeigeführt. Und so werden Bäume abgeschnitten, weil sie im Herbst ihr Laub fallen lassen. Große Flächen werden monoton asphaltiert, bis nur noch senkrechte Wände dafür sorgen, dass der Teer an Grenzen stößt. Zwischen Fahrspur und Gehweg werden knappe Beete angelegt, in denen Bäume entweder verkümmern oder erst gar nicht gepflanzt werden. Und auf den Freiflächen der schon erwähnten Mietshäuser hat außer Rasen nichts eine Chance. Falls doch, kümmern sich mobile Hausmeisterservices darum, von denen so manche Büsche und Sträucher mit drei Schnitten in eine einheitliche Kastenform bringen. Für eine pfleglichere Behandlung fehlt die Zeit, denn Zeit ist Geld, und auch der Hausmeisterservice muss von etwas leben.
Eigentlich können wir uns diese Vernachlässigung der öffentlichen Zonen nicht leisten – schon aus seelischen Gründen, wie das vergangene Corona-Jahr zeigt. Schließlich drängten wir in dieser Zeit, in der wir uns mehr denn je in unseren Wohnungen aufhalten mussten, ins Freie. Draußen häufen sich die Zonen des Schönen aber vor allem in den Wäldern, in der Natur. An dieser Stelle kann man sagen: Ja, wo denn sonst? Etwa mitten in der Stadt, zwischen Ampeln und Rechtsabbiegern?
„Wieso nicht?!“, kann man dagegenhalten. Wie haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass die Stadt zweckmäßig, aber nicht schön sein muss. Das Wort von der „Aufenthaltsqualität“geistert zwar seit Jahren durch alle Architekturentwürfe, die öffentlichen Raum gestalten wollen. Diese Aufenthaltsqualität wirklich zu schaffen, gelingt aber sehr selten. Auch, weil sich das gut Gemeinte kaum ins gut Gemachte übersetzen lässt, wenn die Stadtbevölkerung nicht mitspielt.
Durch den Klimawandel wird die Frage drängender, wie sich eine Innenstadt mit Aufenthaltsqualität schaffen lässt. Fest steht, dass es eine grün gestaltete Innenstadt sein muss, wenn wir nicht vor Hitze umkommen sollen. Verwirklichen lässt sich das aber nur, wenn sich die Häfler mit ihrer Innenstadt identifizieren. Sie müssen bereit sein, sich um sie zu kümmern. Es reicht nicht, von der Stadtverwaltung die Schaffung grüner Oasen zu verlangen, wenn man nicht bereit ist, vor dem eigenen Wohnhaus das Bäumchen auf dem Gehweg zu gießen – mit dem Argument, es gehöre einem ja nicht. Entweder wir ändern unsere Einstellung oder wir hoffen auf die Erfindung einer virtuellen Brille, die unsere Sinneswahrnehmung an den äußeren Grenzen unseres Eigentums abschneidet. Dann bräuchten uns die diversen Hässlichkeiten um uns herum nicht zu scheren.