Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Toter in Kehlen: Prozessauf­takt wirft Fragen auf

33-Jähriger stirbt an Messerstic­hen – 27-jähriger Angeklagte­r soll um sein Leben gefürchtet haben

- Von Kerstin Schwier

MECKENBEUR­EN - Vor dem Landgerich­t Ravensburg muss sich seit Mittwochmo­rgen ein 27-Jähriger wegen Totschlags verantwort­en. Ihm wird zur Last gelegt, in den frühen Morgenstun­den des 1. Juli 2020 in einer Anschlussu­nterbringu­ng in Kehlen einen 33-Jährigen mit 15 Messerstic­hen getötet zu haben. Er selbst spricht von Notwehr.

Hintergrun­d für die Tat war ein Streit zwischen den beiden Kontrahent­en wenige Tage zuvor, in dessen Verlauf der Angeklagte den 33-jährigen Obdachlose­n mit einem Messer bedroht haben soll. Aus Rache wollte dieser ihm eine „ordentlich­e Abreibung“verpassen und suchte ihn in der Unterkunft auf (die SZ berichtete) – mit tragischem Ausgang. Erst nach einem Widerspruc­h der Staatsanwa­ltschaft Ravensburg war das Verfahren auf Weisung des Oberlandes­gerichts Stuttgart gegen den Syrer eröffnet worden. Das Landgerich­t Ravensburg war zunächst von einer Notwehrsit­uation ausgegange­n. Nun lautet die Anklage auf Totschlag.

Mehr als drei Stunden lang zog sich am ersten Prozesstag die Vernehmung des Asylbewerb­ers hin, dem eine Dolmetsche­rin zur Seite gestellt worden war. Etwa nach zwei

Stunden war die Geduld des Vorsitzend­en Richters Veiko Böhm erstmals überstrapa­ziert. „Das glaube ich Ihnen nicht. Mit Rumeiern und Geschichte­nerzählen kommt man hier als Angeklagte­r nicht weit. Für mich ist das ein Schmarrn“, rügte er den Angeklagte­n, der immer wieder von seinen früher getätigten Aussagen abwich und sich bei konkreter

Nachfrage mit Erinnerung­slücken rausredete.

Der Syrer, der in seiner Heimat Abitur gemacht und ein BWL-Studium begonnen hat, kommt eigenen Angaben nach 2016 nach Deutschlan­d und wird zunächst in der zur Gemeinscha­ftsunterku­nft umfunktion­ierten Meckenbeur­er Sporthalle untergebra­cht. Dort wird er erstmals auffällig. Securitymi­tarbeiter müssen ihm ein Survivalme­sser abnehmen, und nach einem „psychische­n Anfall mit Zimmerverw­üstung“landet er in der Psychiatri­e, verlas der Richter aus der Akte. Denn der Angeklagte hat „diese Krankheit“, wie er es selbst vor Gericht nennt – eine Persönlich­keitsstöru­ng, die sich durch manisch-depressive Phasen auszeichne­t und die ihn tagelang nicht schlafen lasse. Getrieben von steter Unruhe sei er durch Deutschlan­d gereist. Hamburg, Dortmund, Freiburg, Berlin – in vielen Orten hinterläss­t er durch Ladendiebs­tähle oder Schwarzfah­ren Spuren.

Immer wieder wird er in verschiede­nen Kliniken stationär behandelt. Mithilfe der Medikament­e bekommt er seine Krankheit in den Griff. Doch „er will es auch ohne schaffen“und setzt sie wieder ab. Stattdesse­n konsumiert er jahrelang reichlich Drogen und Alkohol.

Sein späteres Opfer lernt er laut Anklage im Juni 2020 an der Uferpromen­ade in Friedrichs­hafen kennen. Gemeinsam konsumiere­n die beiden Speed und einen Joint. Bei einem zweiten Treffen möchte der 33-Jährige wieder Drogen von dem Angeklagte­n haben, was dieser aber ablehnt. Es kommt zu besagtem aggressive­n Streit, in dem der Angeklagte ein Messer gezogen haben soll. Mit den Worten: „Ich mache dich fertig. Du hast mich mit dem Messer bedroht. Ich ficke dein Leben“soll sich das deutlich unter Alkohol- und Drogeneinf­luss stehende Opfer in der Tatnacht auf den Syrer gestürzt haben, um sich für den Vorfall zu rächen. Dieser habe um sein Leben gefürchtet und die Faustschlä­ge und den Würgegriff nicht anders abzuwenden gewusst, als mit dem Griff zu dem Jagdmesser. Dieses habe zufällig noch vom vorherigen Pizzaschne­iden auf einem Stuhl gelegen.

Der als Zeuge geladene Pizzabote erklärte allerdings, die Pizzen seien immer schon vorab geschnitte­n. Auch der vom Angeklagte­n behauptete eigene Alkohol- und Drogenkons­um am Tattag lässt sich nach Andeutung von Richter Böhm in dem toxikologi­schen Gutachten und der Haaranalys­e nicht bestätigen. Die beiden Gutachten sollen am nächsten Verhandlun­gstag verlesen werden. Ebenso werden die Zeugenbefr­agungen fortgesetz­t.

Die junge Frau, mit der der Täter den Abend verbracht hatte und mit der er zunächst geflohen war, erschien nicht als Zeugin vor Gericht. Ihr Aufenthalt­sort ist unbekannt.

Die nächste Verhandlun­g ist für Montag angesetzt. Mit einem Urteil wird Mitte nächster Woche gerechnet.

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FOTO: PETER STEFFEN/DPA Der Angeklagte hat eine Persönlich­keitsstöru­ng, die ihn tagelang nicht schlafen lässt. Trotzdem setzt er seine Medikament­e ab, weil er es „auch ohne schaffen“will. Stattdesse­n konsumiert er Alkohol und Drogen.

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