Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Plädoyer für den Mittagsschlaf
Früher hielten die Menschen nach dem Essen ein Mittagsschläfle. Die Verkleinerungsform zeigt an, dass es sich nur um einen kurzen Schlaf handelte. Leider hat dem Mittags- schläfle längst sein letztes Viertelstündle geschlagen. Es wurde durch den Powernap ersetzt. Wer sich zum Powernap entschließt, kuschelt sich nicht mehr aufs Sofa, sondern haut sich mit Wucht auf die Matratze und kommt sich dabei sehr aktiv vor. Das soll so sein, denn das Wort Powernap klingt nicht zufällig wie eine Fitnessübung. Der Powernap kolonisiert eine Insel des Nichtstuns, auf der sich unsere Vorfahren noch räkeln durften, weil für eine halbe Stunde die Pflichten des Tages keine Rolle spielten. Der Powernap dreht den Spieß um und erklärt sich selbst zur Disziplin, die man sich draufschaffen muss. Das nötige Rüstzeug findet man im Internet, unter Überschriften wie „Powernap – Wie du ihn in vier Schritten lernst.“
Wer schläft, sündigt nicht? Heute schon: Man braucht eine Rechtfertigung, um sich kurz mal hinzulegen. Allein aus Müdigkeit wegzuschlummern, ist ein unzulänglicher Grund. Beim Powernap muss man vor allem deshalb schlafen wollen, um danach wieder fit für die Arbeit zu sein. Natürlich war das auch schon zu Großvaters Zeiten ein
Hauptgrund, um mittags wegzuduseln – zumal die Arbeitstage damals eher länger waren als heute. Aber damals musste der Schlaf nicht bemäntelt werden. Man freute sich auch daran, müdegearbeitet zu sein. Das Schläfle war ein Genuss, dem man sich hingab. Dem Powernap fehlt dieser Aspekt vollkommen. Er dient nur dazu, die Müdigkeit zu überwinden.
Mit seiner Traumdeutung hat Sigmund Freud die Bilder enträtselt, die der Schlaf zaubert; zumindest war man dieser Ansicht. Freud schenkte uns aber auch die Vorstellung des Unterbewusstseins, das im Schlaf die Oberhand über unser Ich gewinnt: eine Entfesselung, die uns vom Wachzustand befreit. Diese Kraft ist gezähmt, seitdem das
Schläfle zum höchst rational motivierten Powernap mutiert ist. Und man mag das sogar begrüßen, denn ein wach gewordenes Unterbewusstsein, das gegen die mentalen Zwangsjacken ankämpft, die der Powernap über den Schlaf gebreitet hat, könnte wüten wie ein wildes Tier im Käfig.
Es ist eine merkwürdige Schieflage: Wir arbeiten weniger als unsere Großeltern, aber wir sind vom Effizienzdenken durchdrungen wie keine Generation zuvor. Das wird sich noch böse rächen, wenn die künstliche Intelligenz erst weite Teile der Jobs hinwegfegen und Arbeit zum noch knapperen Gut machen wird. Das Leitbild der Arbeit als Lebenszweck führt schon jetzt mitunter zu einem regelrechten
Komplex: der Furcht, zu wenig beschäftigt zu wirken. So mancher fürchtet, in den Augen anderer nichts zu gelten, wenn er nicht den Eindruck vermittelt, permanent an der Grenze des Arbeitskollapses zu stehen.
Solche Naturen blasen den Grad der Auslastung nach außen gern künstlich auf. Sie geben vor, nie Zeit zu haben, weil sie sich ihrer freien Zeit schämen. Auf solchem Boden kann freilich auch kein entspannter Mittagsschlaf gedeihen. Ist die Powernap-Verkrampfung vielleicht nur das Selbsttäuschungsmanöver einer Generation, die bis in den Schlaf hinein fürchtet, dass ihr die Arbeit ausgehen könnte? Vielleicht ist an dem Gedanken was dran. Ich schlafe mal drüber.