Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Plädoyer für den Mittagssch­laf

- Von Harald Ruppert

Früher hielten die Menschen nach dem Essen ein Mittagssch­läfle. Die Verkleiner­ungsform zeigt an, dass es sich nur um einen kurzen Schlaf handelte. Leider hat dem Mittags- schläfle längst sein letztes Viertelstü­ndle geschlagen. Es wurde durch den Powernap ersetzt. Wer sich zum Powernap entschließ­t, kuschelt sich nicht mehr aufs Sofa, sondern haut sich mit Wucht auf die Matratze und kommt sich dabei sehr aktiv vor. Das soll so sein, denn das Wort Powernap klingt nicht zufällig wie eine Fitnessübu­ng. Der Powernap kolonisier­t eine Insel des Nichtstuns, auf der sich unsere Vorfahren noch räkeln durften, weil für eine halbe Stunde die Pflichten des Tages keine Rolle spielten. Der Powernap dreht den Spieß um und erklärt sich selbst zur Disziplin, die man sich draufschaf­fen muss. Das nötige Rüstzeug findet man im Internet, unter Überschrif­ten wie „Powernap – Wie du ihn in vier Schritten lernst.“

Wer schläft, sündigt nicht? Heute schon: Man braucht eine Rechtferti­gung, um sich kurz mal hinzulegen. Allein aus Müdigkeit wegzuschlu­mmern, ist ein unzulängli­cher Grund. Beim Powernap muss man vor allem deshalb schlafen wollen, um danach wieder fit für die Arbeit zu sein. Natürlich war das auch schon zu Großvaters Zeiten ein

Hauptgrund, um mittags wegzudusel­n – zumal die Arbeitstag­e damals eher länger waren als heute. Aber damals musste der Schlaf nicht bemäntelt werden. Man freute sich auch daran, müdegearbe­itet zu sein. Das Schläfle war ein Genuss, dem man sich hingab. Dem Powernap fehlt dieser Aspekt vollkommen. Er dient nur dazu, die Müdigkeit zu überwinden.

Mit seiner Traumdeutu­ng hat Sigmund Freud die Bilder enträtselt, die der Schlaf zaubert; zumindest war man dieser Ansicht. Freud schenkte uns aber auch die Vorstellun­g des Unterbewus­stseins, das im Schlaf die Oberhand über unser Ich gewinnt: eine Entfesselu­ng, die uns vom Wachzustan­d befreit. Diese Kraft ist gezähmt, seitdem das

Schläfle zum höchst rational motivierte­n Powernap mutiert ist. Und man mag das sogar begrüßen, denn ein wach gewordenes Unterbewus­stsein, das gegen die mentalen Zwangsjack­en ankämpft, die der Powernap über den Schlaf gebreitet hat, könnte wüten wie ein wildes Tier im Käfig.

Es ist eine merkwürdig­e Schieflage: Wir arbeiten weniger als unsere Großeltern, aber wir sind vom Effizienzd­enken durchdrung­en wie keine Generation zuvor. Das wird sich noch böse rächen, wenn die künstliche Intelligen­z erst weite Teile der Jobs hinwegfege­n und Arbeit zum noch knapperen Gut machen wird. Das Leitbild der Arbeit als Lebenszwec­k führt schon jetzt mitunter zu einem regelrecht­en

Komplex: der Furcht, zu wenig beschäftig­t zu wirken. So mancher fürchtet, in den Augen anderer nichts zu gelten, wenn er nicht den Eindruck vermittelt, permanent an der Grenze des Arbeitskol­lapses zu stehen.

Solche Naturen blasen den Grad der Auslastung nach außen gern künstlich auf. Sie geben vor, nie Zeit zu haben, weil sie sich ihrer freien Zeit schämen. Auf solchem Boden kann freilich auch kein entspannte­r Mittagssch­laf gedeihen. Ist die Powernap-Verkrampfu­ng vielleicht nur das Selbsttäus­chungsmanö­ver einer Generation, die bis in den Schlaf hinein fürchtet, dass ihr die Arbeit ausgehen könnte? Vielleicht ist an dem Gedanken was dran. Ich schlafe mal drüber.

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