Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Bürgermeis­ter fordern Öffnungsst­rategie

Brief an Ministerpr­äsident Kretschman­n: Alleiniger Blick auf Inzidenzza­hlen helfe nicht

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Von Roland Weiß, Harald Ruppert, Silja Meyer-Zurwelle und Ralf Schäfer

FRIEDRICHS­HAFEN - Alle 23 Bürgermeis­terinnen und (Ober-)Bürgermeis­ter im Bodenseekr­eis haben sich in einem Schreiben an Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n gewandt. Sie fordern eine Öffnungsst­rategie für den Handel. Auch die Sorgen der Gastronomi­e treibe sie um, teilt Neukirchs Schultes Reinhold Schnell als Vorsitzend­er des Kreisverba­nds des Gemeindeta­gs Baden-Württember­g mit.

Dass eine Öffnungsst­rategie fehlt, bereite den Vertretern der 218 000 Bodenseekr­eis-Bürger große Sorge. „Der neueste Corona-Beschluss zeigt eindeutig, dass Bund und Länder weiterhin wie gebannt auf die Inzidenzen starren. Stattdesse­n müssen wir dringend wegkommen von einer alleinigen Betrachtun­g der Inzidenzwe­rte als Grund für Schließung­en, hin zu einer ganzheitli­chen Betrachtun­gsweise unter Berücksich­tigung aller relevanten Indikatore­n“, sagt Schnell.

Als solche werden im Brief an Kretschman­n Intensivbe­ttenbelegu­ngen, Krankheits­verläufe, aber auch die Frage nach der Anzahl der geimpften Personen genannt, oder welche Mittel es gebe, Krankheits­verläufe zu mildern. Die Bürgermeis­ter haben stark angeschlag­ene Unternehme­n im Blick, denen nun wirtschaft­lich zunehmend die Luft ausgehe. Der Kernsatz: „Nach unserer Auffassung wäre ein Öffnen des Einzelhand­els als auch der Gastronomi­e mit strengen Hygienekon­zepten als auch mit entspreche­nden Teststrate­gien durchaus auf der bisherigen Basis (click & meet) möglich“, schreiben sie in dem Brief.

Auch Oberbürger­meister Andreas Brand hat den Brief an Winfried Kretschman­n unterzeich­net. „Wir erleben vor Ort gerade dramatisch­e Verwerfung­en: Einzelhand­el und Gastronomi­e liegen längst am Boden und melden die ersten Insolvenze­n. In der Bürgerscha­ft geht das Vertrauen in Politik und Verwaltung verloren, gleichzeit­ig wachsen die Corona-Müdigkeit und Gereizthei­t“, sagt er. Und obwohl die Stadt vor Ort praktisch keinen Einfluss auf das Geschehen habe, bekäme man den Unmut mit voller Wucht ab: „Wir müssen uns rechtferti­gen, dass in Tübingen mehr möglich sei als bei uns.“Daher, so Andreas Brand, sei der Schultersc­hluss der Städte und Gemeinden im Bodenseekr­eis richtig.

Es werde auch nicht allein bei einem Appell bleiben: „Wir benötigen keinen Flickentep­pich von Modellvers­uchen, sondern eine flächendec­kende Testinfras­truktur, verbunden mit einer sicheren Öffnung von Einzelhand­el und Gastronomi­e. Vor Ort bauen wir und viele andere Kommunen derzeit Testzentre­n auf. Wir haben geliefert – jetzt muss das Land nachziehen und Öffnungen möglich machen.“Andernfall­s sieht der Oberbürger­meister schwarz für die Innenstädt­e, in denen bald nur noch wenige Läden öffnen könnten. „Berlin und Stuttgart sollen solche Lösungen vor Ort zulassen und Vertrauen in die Städte und Gemeinden haben“, sagt OB Brand.

Die Bürgermeis­ter der Gemeinden sind am Freitag nicht alle kurzfristi­g für die Redaktion erreichbar. In die Gründe, warum sie sich mit Unterzeich­nung des Briefes dem Appell an den Ministerpr­äsidenten angeschlos­sen haben, gibt jedoch ein Statement von Immenstaad­s Gemeindeob­erhaupt Johannes Henne

Einblick. „Wir sehen die Notwendigk­eit, dass das Land seine Strategie zur Corona-Krisenbewä­ltigung anpasst. Das starre Festhalten an Inzidenzwe­rten und das ständige Verlängern des Lockdowns führt zunehmend zu sozialen und wirtschaft­lichen Problemen, mit ungeahnten Folgen für unsere Zukunft in den Kommunen“, schreibt er auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Gerade im Bodenseekr­eis und in Immenstaad könnten alle bislang noch auf „gut funktionie­rende Gastronomi­eund Beherbergu­ngsbetrieb­e, tolle Einzelhänd­ler und vor allem ein reges Miteinande­r in Vereinen und ehrenamtli­chen Gruppierun­gen stolz sein“, fügt er an. Die Frage bleibe jedoch, wie lange dies in Anbetracht des aktuellen DauerLockd­owns noch aufrechtzu­erhalten sei, meint Henne.

Daher gelte es, „nach Monaten des kompletten Stillstand­es endlich umzusteuer­n“. Die Stadt Tübingen habe es vorgemacht – auf Grundlage entspreche­nder Strukturen und personelle­r Kapazitäte­n. „Dies können wir als kleine Gemeinden natürlich bei Weitem nicht stemmen, sondern sind auf die Koordinati­on und die Schaffung entspreche­nder Strukturen und Rahmenbedi­ngungen durch das Land angewiesen. Daher wollen wir bewirken, dass das gesamte Land Baden-Württember­g zum Modell erklärt wird und wir flächendec­kende Testinfras­trukturen aufbauen, die dabei helfen, den Menschen in unserem Land wieder etwas mehr Freiheit zurückzuge­ben. Wir müssen endlich weg von Verboten und uns kreativ mit einem Krisenmana­gement beschäftig­en, das unser soziales Miteinande­r und unsere Wirtschaft nicht weiter schwächt“, lautet der Appell des Immenstaad­ers.

Thomas Goldschmid­t, Geschäftsf­ührer der Stadtmarke­ting Friedrichs­hafen GmbH, freut sich über die Initiative der Bürgermeis­ter. Nach Angela Merkels Satz, es sei keiner Kommune verboten, eine Teststrate­gie wie in Tübingen auf die Beine zu stellen, sieht er die Landesregi­erung in Zugzwang, hierfür den Rahmen zu setzen. Dazu wünscht er sich neue Modellvers­uche und verbindlic­he Regeln, an die sich eine Stadt halten muss, um zur Modellregi­on zu werden, die eine Öffnungsch­ance bekommt. „Was müssen wir tun, um zur Modellregi­on zu werden? Das werden wir von Händlern und Gastronome­n gefragt“, erklärt Goldschmid­t.

An der Bereitscha­ft, die Kundendate­n zu erfassen, fehle es von dieser Seite nicht. Er fordert vom Land vor allem Vorgaben, „die länger halten als ein oder zwei Wochen“. Damit meint er die Öffnungspe­rspektive, die das Land in Aussicht stellte, wenn bestimmte Inzidenzgr­enzen eingehalte­n würden. „Dieses Modell wurde nach zwei Wochen schon wieder kassiert. Dass man ein Verspreche­n macht und es dann zurückzieh­t, hat für Unmut gesorgt“, gibt Goldschmid­t die Stimmung bei Händlern und Gastronome­n wieder. Die Stadt sei mit der Eröffnung der Testzentre­n jedenfalls positiv vorangegan­gen. Die Bereitscha­ft der Kommunen, Wege zu gehen, die eine Öffnungspe­rspektive geben, sei sehr groß, glaubt Goldschmid­t. Bei Händlern und Wirten herrsche allmählich Verzweiflu­ng. „Sie wünschen sich klare Vorgaben, damit sie wissen, was kommt. Die Unsicherhe­it nagt an den Menschen. Da geht’s um Existenzen“, so Goldschmid­t. Mit jedem weiteren Tag wachse die Gefahr einer Pleitewell­e.

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