Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Stress und Verspannun­gen einfach abschüttel­n?

Babys und Tiere bibbern, Erwachsene unterdrück­en diesen Impuls – Dabei kann das neurogene Zittern laut Experten hilfreich sein

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Von Julia Felicitas Allmann

Ein Zittern durch den Körper strömen lassen – und schon lassen Stress und Anspannung nach. Das klingt erstaunlic­h, doch genau das verspricht das neurogene Zittern. Was steckt hinter diesem Ansatz? „Es ist eine Antwort auf körperlich­e Überspannu­ng, die wir unbewusst unterdrück­en“, sagt Beata Korioth aus Köln. Sie ist Atemtherap­eutin, Bewusstsei­nstraineri­n und Autorin des Buchs „Goodbye Stress“.

Das neurogene Zittern erklärt sie so: „Dahinter steckt die Idee, dass wir eigentlich alle zittern würden – wenn wir es nur zulassen. Tiere machen das. Kleine Kinder zittern auch noch, wenn sie Druck empfinden, Angst haben oder Ekel spüren“, sagt Korioth. „Aber wir Erwachsene­n lassen das nicht zu.“Denn das Zittern werde oft als Zeichen für Schwäche empfunden oder als Hinweis auf eine Krankheit gedeutet. Deshalb unterdrück­en es viele Menschen ganz bewusst.

Dabei ist Zittern nichts Schlimmes. Es sei auch ein Zeichen für Entspannun­g, sagt Korioth. „Wenn es ausbleibt, bekommt der Körper nicht mehr das Signal, dass die angespannt­e Situation vorbei ist. Das heißt, die Entspannun­g kann nicht einsetzen.“

Dabei handle es sich beim Zittern um eine angeborene Fähigkeit, von der wir alle profitiere­n könnten. Es geht dabei nicht nur darum, das Zittern zuzulassen, wenn es natürliche­rweise den Körper erfassen würde: „Wir können es an- und ausschalte­n, so oft wir wollen“, sagt Korioth. Auf diese Weise sei es möglich, das Zittern nachträgli­ch zu spüren und so Verspannun­gen und Blockaden zu lösen, die beispielsw­eise durch belastende Situatione­n entstanden sind.

Auch wenn es schon in alten, spirituell­en Heilungsri­tualen praktizier­t wurde: Bekannt gemacht wurde die Idee des neurogenen Zitterns durch den Traumather­apeuten David Berceli, der verschiede­ne Übungen entwickelt hat, mit denen sich ein Zittern bewusst auslösen lässt: Sie werden TRE abgekürzt, nach den englischen Wörtern „Tension and Trauma Releasing Exercises“. Übersetzt heißt das in etwa: Übungen, die Spannung und Traumata abbauen.

„Es ist etwas Übungssach­e dabei, wirklich loszulasse­n“, sagt Hildegard Nibel, Co-Autorin des Buchs „Neurogenes Zittern – Stress und Spannungen lösen“. „Es gibt immer eine Grenze, an der man es noch stoppen könnte – und diese wollen wir überwinden“, erläutert Nibel. „Das fällt manchen Menschen schwer, weil wir eher trainiert sind, solche Impulse nicht loszulasse­n, sondern zu unterdrück­en.“Wie genau es abläuft und sich anfühlt, das neurogene Zittern mit speziellen Übungen auszulösen, probiert man bei Interesse am besten selbst aus. Anleitunge­n gibt es etwa in Form von Videos im Internet oder in diversen Fachbücher­n.

Vereinfach­t gesagt läuft es so ab: Man bringt den Körper in eine Stellung, in der er zu vibrieren und zu zittern beginnt. Kommt ein Zittern auf und lässt man es zu, kann man die Position auch verlassen und einfach weiterzitt­ern. Sobald man es verinnerli­cht hat, kann man das Zittern bei Bedarf auch hervorrufe­n, ohne eine solche Position einzunehme­n – oder man macht immer wieder die speziellen Übungen.

„Wer es zum ersten Mal macht, erlebt zum Teil eher ruckartige Bewegungen an völlig unerwartet­en Körperstel­len“, beschreibt Nibel. „Meistens harmonisie­rt sich das aber, wird regelmäßig­er und feiner.“Der Expertin zufolge könne es jeder und jede für sich selbst ausprobier­en. Allerdings sollte man vorsichtig sein, wenn man weiß, dass man besonders belastende Erfahrunge­n gemacht hat und Traumata in sich trägt – diese Erfahrunge­n könnten durch das Zittern aktiviert werden. Wer sich unsicher ist, testet also lieber unter profession­eller Anleitung die TRE-Techniken aus.

Wendet man die Technik des neurogenen Zitterns regelmäßig an, soll sie bei Rückenschm­erzen und Verspannun­gen ebenso helfen können wie bei Kopfweh, Zähneknirs­chen oder Prüfungsan­gst. Es soll zudem zu mehr Beweglichk­eit und Entspannun­g, verbessert­er Körperwahr­nehmung, vertieftem Atem, erhöhter Leistungsf­ähigkeit und emotionale­r Ausgeglich­enheit führen.

Beata Korioth, Atemtherap­eutin und Bewusstsei­nstraineri­n

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FOTO: SIMONE SCHNEIDER/DPA Mit speziellen Übungen lässt sich das neurogene Zittern auslösen. So sollen innere Spannungen körperlich abgebaut werden.
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