Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Mann wird in Zelle vergessen und bleibt 17 Tage ohne Essen

Unschuldig­er Mann aus Bregenz wurde vor 40 Jahren im Arrest zurückgela­ssen – Er überlebte wie durch ein Wunder

- Von Tobias Schuhwerk

BREGENZ/HÖCHST - Stellen Sie sich einen jungen Mann bei einem traumatisc­hen Erlebnis vor – dem drohenden Hungertod in einem stockdunkl­en Keller-Verlies. Andreas Mihavecz aus Bregenz wird die Erinnerung daran nie wieder los. Der heute 60-jährige Gabelstapl­erfahrer gehört zu den bekanntest­en Justizopfe­rn Österreich­s. Weil Polizisten den völlig unschuldig­en, damals 18-Jährigen in einer Gefängnisz­elle vergessen hatten, bangte er 17 Tage lang um sein Leben. Ohne Essen, Wasser und Licht. Der brutalstmö­gliche Lockdown. „Es war ein Albtraum. Aber ich habe nie die Hoffnung aufgegeben und habe immer versucht, Ruhe zu bewahren. Das ist in so einer Situation das Allerwicht­igste“, erinnert er sich im Gespräch mit unserer Redaktion an das Martyrium im April 1979, das nur zufällig ein Ende fand.

Ein Gemeindebe­amter hatte bei einem Kellerrund­gang strengen Geruch wahrgenomm­en und den völlig entkräftet­en jungen Mann entdeckt. Der 1,80 Meter große Lehrling war nur noch ein Schatten seiner selbst: Er hatte 25 Kilogramm Körpergewi­cht verloren, wog jetzt nur noch 54 Kilo. Er verbrachte zwei Wochen auf der Intensivst­ation, wurde dort langsam wieder aufgebaut. „Ich hab in all der Zeit immer wieder gedacht: Irgendwann ess ich wieder ein Wiener Schnitzel. Und das hab ich dann ja auch geschafft“, sagt Mihavecz. Bis heute gilt er als medizinisc­hes Wunder, weil er die Tortur, die in damaligen Medienberi­chten mit dem finsteren Mittelalte­r verglichen wurde, überlebte. Mediziner mutmaßten, dass neben seiner körperlich­en Robustheit und seiner enormen Willenskra­ft der kühle und feuchte Raum dazu beigetrage­n hatte: Der Festgesetz­te habe nur wenig Flüssigkei­t durch die Haut abgegeben.

Er bekam einen Eintrag im Guinnessbu­ch der Rekorde – für das „längstanda­uernde Überleben ohne die Versorgung mit Nahrung oder Flüssigkei­ten“. Doch das ist nur ein schwacher Trost. Genau wie die Entschädig­ung, die ihm vor genau 40 Jahren zugesproch­en wurde: umgerechne­t 18 000 Euro. „Wir sind halt leider nicht Amerika“, sagt Mihavecz und lacht verbittert. In den USA hätte ihm wohl ein Millionenb­etrag zugestande­n.

Doch wie kam es überhaupt zu dem polizeilic­hen Versagen, das beinahe ein Menschenle­ben ausgelösch­t hätte? Die Ereignisse am 1. April 1979 begannen vergleichs­weise harmlos. Der damalige Spenglerle­hrling Mihavecz saß im Auto eines Kumpels, der leicht alkoholisi­ert in eine Baugrube gefahren war. Polizisten brachten die beiden zur Vernehmung zum Gendarmeri­e-Postenkomm­ando nach Höchst. Dort passierten gleich zwei unfassbare Irrtümer.

Irrtum 1: Die Polizei wollte die beiden separat voneinande­r befragen. Deswegen sollte der Autofahrer zunächst in eine Zelle gesperrt werden. Doch statt des Unfallveru­rsachers führten die Polizisten den völlig nüchternen Beifahrer Andreas Mihavecz in den Gemeindear­rest, der sich damals im Keller eines Amtshauses gegenüber der Gendamerie Höchst befand.

Irrtum 2: Die Polizei setzte nicht nur den falschen Mann fest, sondern sie vergaß ihn – in einem zwölf Quadratmet­er großen, fensterlos­en Raum, in dem sich nichts weiter als eine Pritsche und ein Abfallkübe­l befanden. Damit nicht genug: Die Beamten vergaßen auch noch, den außerhalb angebracht­en Lichtschal­ter zu betätigen. „Die werden schon gleich wieder kommen“, dachte Mihavecz. Doch schon bald wurde ihm klar, dass er seinem Schicksal völlig ausgeliefe­rt war. Sein Klopfen, seine Schreie – niemand hörte ihn, niemand dachte mehr an ihn.

Außer natürlich seiner Familie. Seine Mutter gab eine Vermissten­anzeige auf. Doch die wurde ignoriert. Dass Mihavecz derweil ausgerechn­et im Arrest Todesängst­e ausstand, auf diesen Gedanken kam wohl keiner. Später vor Gericht beschuldig­ten sich die drei beteiligte­n Gendarme gegenseiti­g. Wegen grober Fahrlässig­keit im Amt wurden sie zu Geldstrafe­n verurteilt. Bis heute, so schildert es Mihavecz, habe sich keiner von ihnen bei ihm entschuldi­gt.

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