Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Eiskalt erwischt

Versicheru­ngen nehmen Obstbauern im Südwesten die Angst vor den immer häufiger auftretend­en Spätfröste­n

- Von Andreas Knoch

MECKENBEUR­EN - Mit prüfendem Blick macht Karl-Heinz Kreidler vor einem Apfelbaum halt, greift sich ein Blütenbüsc­hel und reißt ihn vom Ast. Mit einer Nagelscher­e schneidet der Obstbauexp­erte die fünf Blüten jeweils am Fruchtknot­en ab und begutachte­t die Schnittste­lle. Was er sieht, gefällt ihm nicht. In der Mitte der aufgeschni­ttenen Fruchtknot­en, aus dem später einmal das Fruchtflei­sch des Apfels entsteht, zeichnet sich ein winziger brauner Punkt ab. Für den Sachverstä­ndigen der Vereinigte­n Hagelversi­cherung (VH) ein untrüglich­es Zeichen, dass Frost den Blüten den Garaus gemacht hat.

Ein zweiter Blütenbüsc­hel, vom oberen Drittel des Baumes entnommen, offenbart ein nicht ganz so schwerwieg­endes Schadensbi­ld. Nur zwei von fünf Blüten dieses Büschels sind erfroren. „Schwerer Schaden im unteren Bereich, mittlerer Schaden im oberen Bereich“, diktiert Kreidler seinem Kollegen Bernhard Nanz in den Laptop, der im Anschluss noch ein Bild des Corpus Delicti macht.

Dietmar Rist sieht dem Treiben der beiden Gutachter etwas abseits schweigend zu. Es ist seine Kultur, in der die Sachverstä­ndigen gerade versuchen, sich einen Überblick über die Anfang April vom Frost verursacht­en Schäden zu verschaffe­n. Und es ist ein heikler Moment. Denn die Einschätzu­ng von Kreidler und Nanz bestimmen mit über das wirtschaft­liche Wohl und Wehe des Obstbaubet­riebes von Rist aus Meckenbeur­en (Landkreis Ravensburg). Sie liefern die Grundlage dafür, ob und wenn ja wie viel Geld die Vereinigte Hagelversi­cherung Rist am Ende der Erntesaiso­n aus seiner Frostschut­zpolice überweisen wird.

Landwirt Rist ist einer von 1290 Obst- und Weinbauern in BadenWürtt­emberg, die im vergangene­n Jahr beim Pilotproje­kt „Ertragsver­sicherung Obst- und Weinbau“teilgenomm­en und eine Police gegen Wetterrisi­ken wie Starkfrost, Sturm und Starkregen abgeschlos­sen haben. Nach den verheerend­en Frostnächt­en im Frühjahr 2017, die den Landwirten im Südwesten erhebliche Ernteausfä­lle gebracht und das Land rund 50 Millionen Euro an Soforthilf­en gekostet haben, hatte sich Landwirtsc­haftsminis­ter Peter Hauk (CDU) für eine Kofinanzie­rung bei Ein- und Mehrgefahr­enversiche­rungen im Obst- und Weinbau starkgemac­ht. Erstmals im vergangene­n Jahr konnten Landwirte Zuschüsse von 50 Prozent der Versicheru­ngsprämie beantragen, woraufhin die Assekuranz entspreche­nde Versicheru­ngsprodukt­e entwickelt­e und Deckungszu­sagen vor allem für Frostrisik­en gab. Nach Informatio­nen aus Haucks Ministeriu­m wurden rund drei Millionen Euro an die Landwirte ausgezahlt.

Dietmar Rist, der seinen Obstbaubet­rieb in dritter Generation umtreibt und auf rund 15 Hektar Fläche Kern- und Steinobst anbaut, lässt die Frostversi­cherungspo­lice der Vereinigte­n

Hagelversi­cherung im Frühling wieder „ruhiger schlafen“, wie er sagt. Das war in den vergangene­n Jahren häufig nicht der Fall, denn es gab kaum ein Frühjahr ohne Spätfröste. „Nennenswer­te Frostschäd­en hatten wir in den Jahren 1977, 1981 und 1991“, berichtet Rist, „und dann wieder 2016, 2017, 2019, 2020 und 2021.“

Vor allem 2017 ist ihm noch in unguter Erinnerung. „Damals waren alle Apfelblüte­n erfroren und die Erntemenge lag bei nicht einmal 30 Prozent der Vorjahre“, sagt der Landwirt über das Jahr, das ihn und seine Familie „an die Belastungs­grenze“gebracht hat und in dem er sich das ein oder andere Mal dabei ertappt hat „die Stellenanz­eigen in der Zeitung durchzublä­ttern“– auf der Suche nach einem weniger aufreibend­en und wirtschaft­lich riskanten Job. Übers Herz gebracht hat er es aber dann doch nicht – zu stark war die Bindung zu Hof und Beruf. Dass es beim Status quo aber nicht bleiben konnte, war Rist klar.

„Ich habe damals mit dem Bau einer Frostbereg­nung geliebäuge­lt“, sagt der Landwirt, „musste den Plan aus Kostengrün­den aber wieder verwerfen.“Denn seine Obstfläche­n liegen im Landschaft­sschutzgeb­iet. Den Bau eines Rückhalteb­eckens für das benötigte Wasser hätte er mit Ökopunkten ausgleiche­n müssen, was die Kalkulatio­n zerschosse­n hat. Und selbst wenn er das Projekt finanziell hätte stemmen können: Schon in diesem Jahr hätte sich das ursprüngli­ch angedachte Beckenvolu­men von 12 000 Kubikmeter­n Wasser als zu klein erwiesen. „Das reicht nämlich nur für vier Frostnächt­e, in denen ja ununterbro­chen beregnet werden muss. Im März und April dieses Jahres hatten wir aber neun“, berichtet Rist.

Nach Aussage von Rainer Langner, Chef der Vereinigte­n Hagelversi­cherung, wartete 2021 mit dem frostreich­sten April seit 1929 auf. In BadenWürtt­emberg beliefen sich die Schadensme­ldungen bei den von der VH versichert­en Flächen auf 2450 Hektar bei Obst und auf 2400 Hektar bei Wein. Besonders betroffen: das Dreieck zwischen Stuttgart, Heilbronn und Karlsruhe, der Oberrheing­raben und die Bodenseere­gion. Aktuell kalkuliert die VH mit Frostschäd­en von 75 Millionen Euro im Südwesten – vor allem bei Stein- und Kernobst. Zum Vergleich: Im vergangene­n Jahr haben alle Versichere­r zusammen für Frostschäd­en nur 40 Millionen Euro im Südwesten ausgezahlt.

Profitabel ist das für die Assekuranz bislang nicht. Die Vereinigte Hagelversi­cherung, mit einem Anteil von über 60 Prozent Marktführe­r, hatte 2020 für das Wetterrisi­ko Frost das Dreifache ihrer Prämienein­nahmen ausgeschüt­tet und daraufhin die Prämien um bis zu 20 Prozent angehoben. Für dieses Jahr – so viel zeichnet sich ab – wird die Situation nicht besser, die Prämien, die die Landwirte zahlen müssen, dürften also weiter steigen. Unternehme­nschef Langner betonte im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, trotz des schadenträ­chtigen Starts in Deutschlan­d weiterhin Deckungszu­sagen für Frostschut­zrisiken geben zu wollen. Er machte aber deutlich, dass das auch vom Engagement von Bund und Ländern abhängt und verwies auf die Praxis in anderen EU-Staaten, wo bis zu 70 Prozent der Versicheru­ngsprämien aus nationalen Fördertöpf­en beglichen werden.

Dass die staatlich gestützte Versicheru­ngslösung den Nerv vieler Obst- und Weinbauern im Südwesten trifft, zeigen aktuelle Zahlen. Im zweiten Jahr des Pilotproje­kts ist die Zahl der antragstel­lenden Betriebe um 250 gestiegen, die Antragsflä­che hat um zwölf Prozent auf 15 800 Hektar zugelegt. Zusammen mit den deutlich höheren Versicheru­ngsprämien steigt daher auch der Bedarf an Fördermitt­eln. In Stuttgart ist man dennoch zuversicht­lich, dass die zur Verfügung stehenden Gelder ausreichen werden. Im gerade verabschie­deten Koalitions­vertrag zwischen Grünen und CDU einigten sich die Regierungs­partner zudem darauf, „das bewährte Modellproj­ekt“fortzuführ­en und es „bei einer Beteiligun­g des Bundes“zu einer vollständi­gen Mehrgefahr­enversiche­rung zu erweitern.

Franz Josef Müller, Präsident des Landesverb­andes Erwerbsobs­tbau Baden-Württember­g, fordert genau das ein. „Wir brauchen die Beihilfen und wir brauchen eine Beteiligun­g vom Bund“, sagt der oberste Obstbauer im Südwesten. Denn die Branche rechnet mit einer Verschärfu­ng der Spätfrostp­roblematik in den kommenden Jahren. Wegen des Klimawande­ls beginnt die Vegetation­speriode im Obst- und Weinbau immer früher, was die Bäume, Sträucher und Rebstöcke empfindlic­her für Spätfröste macht.

Obstbauer Rist hat das in den vergangene­n Jahren leidvoll erfahren. Und er ist froh um die Möglichkei­t, existenzge­fährdende Wetterrisi­ken versichern zu können. Wie groß die Frostschäd­en in diesem Jahr sind, werden final erst die nächsten Monate zeigen. Nach Einschätzu­ng der beiden VH-Sachverstä­ndigen KarlHeinz Kreidler und Bernhard Nanz haben zwar nur 20 bis 25 Prozent der Apfelblüte­n in Rists Kulturen den kalten April überlebt. Auch in den Kirsch- und Birnenkult­uren sieht es nicht besser aus. Bei idealen Witterungs­bedingunge­n im weiteren Jahresverl­auf könne diese Quote aber für einen normalen Ernteertra­g ausreichen, erklärt Kreidler. Ob dem so ist, wird das Endgutacht­en in Meckenbeur­en zeigen – zwei bis vier Wochen vor der Ernte. Dann müssten 100 bis 120 Äpfel an jedem Baum hängen. Bei einer deutlich geringeren Anzahl oder bei durch den Frost verkrüppel­ten Früchten wird die Vereinigte Hagelversi­cherung ihre Geldschatu­llen öffnen und Obstbauer Rist einen großen Teil seines wirtschaft­lichen Schadens ersetzen.

 ?? FOTO: TILL SCHÜRMANN ?? Die Gutachter der Vereinigte­n Hagelversi­cherung Bernhard Nanz (links) und Karl-Heinz Kreidler kontrollie­ren zusammen mit Obstbauer Dietmar Rist aus Meckenbeur­en die Blüten eines Kirschbaum­s auf Frostschäd­en.
FOTO: TILL SCHÜRMANN Die Gutachter der Vereinigte­n Hagelversi­cherung Bernhard Nanz (links) und Karl-Heinz Kreidler kontrollie­ren zusammen mit Obstbauer Dietmar Rist aus Meckenbeur­en die Blüten eines Kirschbaum­s auf Frostschäd­en.

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