Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies
Wieder ein Klassiker der Moderne – Das Kunstmuseum Lindau zeigt Arbeiten von Marc Chagall
LINDAU - Schon wieder Chagall? Kaum ein Künstler der Moderne ist so gründlich vermarktet worden. Auf Postern, Karten, Kalendern schweben seine Blumen, Musikanten, Clowns, Tiere, Liebespaare. Eigentlich hat man genug davon gesehen und ist doch immer wieder betört vom zauberhaften Werk dieses großen Träumers. Bis Ende Oktober lockt nun das Kunstmuseum Lindau mit Marc Chagalls „Paradiesischen Gärten“.
Ein schönes Thema, das in diesen bleiernen Tagen der Pandemie die Sorgen des Alltags für kurze Zeit vergessen lässt. Auch Marc Chagall (1887-1985) kannte solche düsteren Zeiten. Geboren in Weißrussland musst er erleben, wie Witebsk, das jüdische Schtetl seiner Kindheit, im sozialistischen Realismus versankt. Von den Nazis verfemt und verfolgt, floh er im II. Weltkrieg aus der Wahlheimat Frankreich und verlor im amerikanischen Exil seine geliebte Frau Bella. Aber er kehrte zurück nach Europa, fand als älterer Herr 1952 mit der Russin Vava ein neues Liebesglück, zog mit ihr in die sonnige Provence und ließ die Kunst noch einmal aufblühen – eine Kunst voller Poesie, Leichtigkeit, Beschwingtheit.
Mithilfe des Kunstmanagers Roland Doschka, der bereits 2012 eine Chagall-Ausstellung für Lindau kuratierte, konnten für die neue Ausstellung 67 Bilder aus dem Nachlass des
Künstlers sowie aus Privatbesitz zusammengetragen werden. Schwerpunkt der Schau ist Chagalls Suche nach dem verlorenen Paradies. Die lichtdurchfluteten Arbeiten aus der Zeit zwischen 1950 und 1970 stammen aus dem Spätwerk und sind voller Lebensfreude.
Besonders deutlich wird dies in Chagalls lithografischen Illustrationen des antiken Liebesromans „Daphnis und Chloe“. Der Künstler schöpft hier alle Möglichkeiten dieser aufwendigen Technik aus und steigert schließlich die verwendeten
Farbtöne auf über 25. Normalerweise wurden bis dato maximal fünf oder sechs Farben für den Steindruck verwendet. „Was den Zyklus ,Daphnis und Chloe’ so herausragend macht, ist die einmalige Kongenialität von dichterischer Vorlage, lebensbezogener
Abhandlung und metaphorisch-malerischer Wiedergabe bei absoluter Meisterschaft der Technik“, schreibt Doschka im Katalog zur Ausstellung und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Glanzpunkt abendländischer Kultur“. Fast zehn Jahre lang hat Chagall an dem Projekt gearbeitet.
In 42 farbenprächtigen und narrativen Bildern erzählt Chagall seine Interpretation der berühmten Liebesgeschichte, die der spätantike Autor Longos um 200 n. Chr. als Roman verfasst hat. Im Zentrum der Geschichte steht das Erwachen der Liebe zwischen zwei jungen Menschen, die bei Hirten aufwachsen. Die Handlung spielt auf der griechischen Insel Lesbos, die Chagall besuchte, um sich vor Ort inspirieren zu lassen.
Die Farben in den Blättern hat der Künstler passend zu den Tages- und Jahreszeiten, den Orten und den Emotionen der Figuren gewählt: Weiß und Lila sorgen für eine winterlich-kühle Stimmung, tiefes Rot verweist auf die Gluthitze eines Sommertages und die erotische Liebe, gelb leuchten Sonne und Mond, Grüntöne stehen für eine üppige Vegetation, Blau ergeben das Meer und den Nachthimmel. Ein Fest der Farben, das den Betrachter in eine paradiesische Kulisse entführt.
An einigen Stellen tauchen im Hintergrund Säulen und Tempel aus Griechenland auf, an anderen schneebedeckte Häuser und ein Hahn, die wiederum an Chagalls Heimat erinnern. Und mittendrin das eng umschlungene Liebespaar. „Denn gegen die Liebe gibt es kein Heilmittel, weder in Form eines Tranks, einer Speise noch gemurmelter Zaubersprüche, keines außer Kuss und Umarmung und Zusammenliegen mit nackten Leibern“, schreibt Longos an einer Stelle in „Daphnis und Chloe“.
Noch während der Arbeit an den Lithografien beauftragt die Pariser Oper Chagall damit, das Bühnenbild und die Kostüme des Balletts „Daphnis und Chloe“zur Musik von Ravel zu entwerfen. Wenige Jahre später erhält Chagall dann durch den französischen Kulturminister André Malraux den Auftrag, ein neues Deckengemälde für die Pariser Oper im Palais Garnier zu entwerfen. Mit einer Vielzahl von Skizzen und Entwürfen tastet sich der Künstler an die Aufgabe heran. Der finale Entwurf von 1963 mit Motiven aus berühmten Bühnenwerken von ihm verehrten Komponisten ist ebenfalls in Lindau zu bewundern. Zu entdecken ist zum Beispiel eine bezaubernde Darstellung von Mozarts „Zauberflöte“, aber auch der Eiffelturm und nebendran Chagall mit Pinsel und Palette.
Kaum ist das neue Deckengemälde eingeweiht, bittet die New Yorker Metropolitain Opera den Künstler für eine Neuinszenierung der „Zauberflöte“Bühnenbilder und Kostüme zu entwerfen. Die Entwürfe zeigen, dass Chagall mit schnellem Pinselstrich seiner Fantasie freien Lauf lässt. Bei den hier gezeigten Studien hat er in einem Bild sogar Stofffetzen und vergoldetes Papier verwendet. Ganz bezaubernd ist die Darstellung von Papageno mit Flöte als junger Mann in Shorts mit nacktem Oberkörper.
Blickfänge gibt es also einige beim Rundgang durch die Räumlichkeiten in Lindau. Nicht zu vergessen das bekannte Bild „Liebespaar mit Nelkenstrauß in Grün“von 1950. Das schimmernde Grün steht hier für Chagalls Hoffnung auf einen glücklichen Neubeginn in Südfrankreich.
Und wenn wir schon bei der Farbe Grün sind: Roland Doschka wird parallel zu der neuen Sonderausstellung einen Chagall-Garten kreieren, passend zur in Lindau stattfindenden Gartenschau. In diesem kleinen Paradies will Doschka Blautöne in allen Variationen zum Blühen bringen. Chagall hätte die Idee sicher gefallen.
Dauer: bis 31. Oktober, Öffnungszeiten: täglich 10-18 Uhr, Katalog: 15 Euro. Um lange Wartezeiten zu vermeiden, gibt es einen Reservierungsservice unter der Telefonnummer 08382 / 274747850 sowie unter www.lindau.de