Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Taiga-Krimi endet glimpflich
Nawalny-Arzt Alexander Murachowski in sibirischem Dorf wieder aufgetaucht – Er galt drei Tage lang als vermisst
MOSKAU - Alexander Murachowski, seit drei Tagen vermisster Omsker Ärztechef, ist am Montag lebend aufgetaucht. Vorher war spekuliert worden, ob mit ihm ein weiterer Zeuge im Giftmordfall Alexej Nawalnys beseitigt werden sollte.
Murachowski verschwand am vergangenen Freitag. Der Gesundheitsminister der Region Omsk war auf einem Vierradroller zum Jagen in die Taiga gefahren, das Fahrzeug wurde zwei Tage später gefunden, steckengeblieben im sumpfigen Unterholz, 6,5 Kilometer von dem westsibirischen Dorf Pospelowo. Und laut dem Regionalportal bk55.ru hatten Anwohner dort zwei Bären gesichtet.
Internetnutzer aber rätselten, warum der Topbeamte aus der 270 Kilometer entfernten Regionalhauptstadt Omsk überhaupt allein in den kaum zugänglichen Waldsümpfen unterwegs war. Oppositionskreise spekulierten schon, ob der Omsker Ärztechef ermordet worden sei. Denn im vergangenen August leitete Murachowski die Omsker Notfallklinik Nr. 1, in der Alexej Nawalny nach seiner Vergiftung in Tomsk lag. „Wenn man Murachowski wirklich als Zeugen beseitigt hat“, twittert der Omsker Aktivist Daniil Tschebykin, „ist das die absolute Finsternis.“
Doch dieser Taiga-Krimi endete glimpflich. Murachowski, den mehr als hundert Polizisten, Helfer und ein Hubschrauber suchten, ist am Montag lebendig in dem Dörfchen Basly aufgetaucht. Seine Frau bestätigte dem Kanal TV Doschd, sie habe mit ihm telefoniert.
Die Ängste um Murachowski aber sind nicht aus der Luft gegriffen. Denn im Februar starb sein früherer Stellvertreter in der Notfallklinik Nr. 1, Sergei Maksimischin, 55, an einem Herzinfarkt, einer der Ärzte, die Nawalny dort vergangenen August behandelt hatten. „Er wusste mehr als jeder andere über den Zustand Alexejs, deshalb kann ich nicht ausschließen, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist“, sagte Nawalnys Stabschef Leonid Wolkow damals der CNN. Im März aber verschied Rustam Agischew, Abteilungsleiter der Unfallchirurgie der Klinik, 63, auch er hatte an Nawalnys Behandlung teilgenommen. Agischew starb an den Folgen eines Schlaganfalls, den er im Dezember 2020 erlitten hatte.
Und nach Murachowskis Verschwinden in den Sümpfen schrieb das Nachrichtenportal tayga.info: „Mit den Mitarbeitern der Omsker Notfallklinik Nr. 1 passieren weiter sonderbare Dinge.“
Schon während Nawalnys Behandlung dort hatten Journalisten in Murachowskis Büro hohe regionale
Polizei- und FSB-Beamte gesichtet. Nawalnys Umgebung werfen Leitung und Ärzten der Klinik seitdem vor, sie hätten auf Befehl des Inlandsgeheimdienstes versucht, seine Vergiftung zu vertuschen.
Allerdings sind tödliche Herzund Schlaganfälle unter russischen Männern zwischen 55 und 63 Jahren keine Seltenheit. „Ohne Beweise macht es keinen Sinn, Verdächtigungen anzustellen“, sagt Alexandra Sacharowa, Sprecherin der unabhängigen „Allianz der Ärzte“der „Schwäbischen Zeitung“. „Im Fall Nawalny teilen sich die Meinungen der Ärzteschaft wie die der ganzen Gesellschaft.“
Anatoli Kalinitschenko, ein weiterer behandelnder Arzt aus der Notfallklinik Nr. 1 kündigte im Oktober, er arbeitet in einer Privatklinik. Sein Exchef Murachowski aber sollte eigentlich am wenigsten zu befürchten haben. Im August hatte er Journalisten hartnäckig versichert, man habe in Nawalnys Blut keine Giftspuren entdeckt. Und er weigerte sich tagelang, den Patienten für einen Transport nach Deutschland freizugeben, wo Ärzte der Berliner Charité später eine schwere Vergiftung diagnostizierten.
Murachowski gab seinen Widerstand gegen die Überführung nach Berlin erst auf Weisung des Kremls auf. Offenbar wurde sein Verhalten dort gutgeheißen: Im Oktober übertrug man ihm die Leitung eines weiteren Krankenhaus, im November wurde er Omsker Gesundheitsminister. Und Murachowski ist erst 49 Jahre alt.