Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Mein Wort zum Sonntag
Der Dirigent (weltberühmt) tritt ans Pult vor das Orchester (weltberühmt). Freundlicher Applaus des Publikums. Er nimmt Kontakt auf mit den Musikerinnen und Musikern, hebt den Kopf, dann die Arme, öffnet seine Hände – und es passiert: nichts. Kein Geiger hebt sein Instrument, kein Bläser setzt das Mundstück an. Kein einziger Ton, nur die Spannung, die vom Dirigenten ausgeht. Dieses Nichts dauert vier Minuten und 33 Sekunden. Und es ist wirklich ein Musikstück. Es heißt „4’33’’“, hat drei Sätze (jeweils mit der Überschrift „tacet“/„schweigt“) und stammt vom amerikanischen Komponisten John Cage. Am Ende: freundlicher Applaus des Publikums (nachzusehen auf Youtube).
Man könnte sagen: eine freche Arbeitsverweigerung einer Truppe von höchstdotierten Musikern. Und für das Publikum (sofern es nicht weiß, was es erwartet) eine radikale Täuschung seiner Erwartung: Man zahlt doch nicht einen Haufen Geld für ein Konzert, um dann nichts zu hören.
Wobei: „Nichts“ist nicht ganz richtig. Wer sich darauf einlässt, der hört zwar immer noch nichts, kann aber ganz andere, unerwartete Erfahrungen machen. Faszinierend etwa, wie Kirill Petrenko, der Dirigent, die Spannung hält und variiert, über drei Sätze und viereinhalb Minuten, und dem „Nichts“, der Stille, eine Form gibt. Der Verzicht auf die (erwarteten) Töne gibt eine ganz andere Erfahrung frei.
4’33’’ – das ist mein Vorsatz für die Fastenzeit. Ich werde versuchen, jeden Tag mindestens viereinhalb Minuten „Nichts“auszuhalten. Alles, was ich sonst glaube tun zu müssen, einfach zu lassen. Jedenfalls für diese Zeit. Ich rechne damit, dass sich Widerstände regen werden: Nichts Besseres zu tun? Aber ich erhoffe mir neue Erfahrungen, einen tieferen Blick auf mich und die anderen.
Falls Sie auch Lust haben: Für den Anfang hier schon mal etwa viereinhalb Zeilen „Nichts“.