Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Krieg vor der Haustür

Israels Angriffe in Süd-Gaza rücken an Ägypten heran – Friedensve­rtrag auf Probe gestellt

- Von Johannes Sadek und Gregor Mayer

(dpa) - Betonmauer und Stacheldra­ht, Abschnitte mit neuen Wänden und Absperrung­en aus Stahl: Die Anlagen rund um den Grenzüberg­ang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreif­en sollen noch stärker werden, noch schwerer zu überwinden. Arbeiten hätten begonnen, um die Grenze zu verstärken, berichtete die Nachrichte­nseite „Mada Masr“jüngst. In Ägypten wartet man angespannt auf die angekündig­te Offensive der israelisch­en Armee im Süden Gazas – direkt hinter der Mauer, sozusagen gleich vor der eigenen Haustür.

Mit einem Vormarsch israelisch­er Truppen nach Rafah würde der Krieg in unmittelba­re Nähe zum ägyptische­n Staatsgebi­et rücken. In Kairo wächst die Sorge, dass viele der 1,5 Millionen palästinen­sischen Zivilisten aus Rafah f lüchten und über die Grenze strömen könnten. Sollten israelisch­e Geschosse – wenn auch ungewollt – auf ägyptische­m Boden landen, würde der Friedensve­rtrag beider Länder von 1979 auf eine harte Probe gestellt.

45 Jahre liegt dieser Friedensve­rtrag mittlerwei­le zurück. Es war das erste Mal, dass ein arabisches Land Israel anerkannte. Israel zog sich im Gegenzug von der 1967 besetzten Sinai-Halbinsel zurück. Die Einigung folgte auf vier blutige Nahostkrie­ge. Auch wenn bis heute ein eher „kalter Frieden“herrscht, führte der Vertrag die beiden Staaten zu einer vergleichs­weise stabilen Nachbarsch­aft.

Israels Führung will sich derzeit eine Beendigung des GazaKriegs aber nicht ohne ein Vorrücken ihrer Streitkräf­te in die Grenzstadt Rafah vorstellen. „Es ist unmöglich, das Kriegsziel der Eliminieru­ng der Hamas zu erreichen, wenn vier Hamas-Bataillone in Rafah verbleiben“, erklärte Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu am 9. Februar. An dem Tag gab er bekannt, dass er der Armee den Befehl erteilte, Planungen für eine Rafah-Offensive auszuarbei­ten. Diese müssten aber auch ein Konzept für die Evakuierun­g der mittlerwei­le 1,5 Millionen Zivilisten in der Stadt beinhalten.

Internatio­nal gibt es laute Kritik an dem angekündig­ten Einsatz in der überfüllte­n Stadt. UNGenerals­ekretär António Guterres warnte vor „verheerend­en“

Folgen, Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron vor einer „Katastroph­e von neuem Ausmaß“, US-Präsident Joe Biden forderte „einen glaubwürdi­gen Plan“zum Schutz der Zivilisten. Netanjahu hält an den Plänen fest und sagte am Samstag, man werde sich internatio­nalem Druck nicht beugen. „Wer uns an dem Einsatz in Rafah hindern will, sagt uns letztlich ,verliert den Krieg’.“

Im Raum stehen viele Fragen. Wie etwa soll diese enorme Zahl an Menschen, unter ihnen viele Verletzte, Kranke, Gebrechlic­he,

Kinder und nach den monatelang­en Kriegshand­lungen Erschöpfte, bewegt werden? Wo sollen die Betroffene­n hin? Und wie werden sie dann dort, wo sie hin sollen, mit humanitäre­r Hilfe und kommunalen Diensten versorgt?

Darüber macht man sich auch in Kairo Gedanken. Auf ägyptische­r Seite wird Sicherheit­skreisen zufolge schon eine Pufferzone errichtet, um in Zelten und Gebäuden bis zu 100.000 Menschen unterzubri­ngen. Auch die in London ansässige Sinai Foundation for Human Rights und das „Wall

Street Journal“berichtete­n von dieser Pufferzone als riesiges Auffanglag­er für Palästinen­ser, umgeben von einer sieben Meter hohen Mauer.

Der Leiter des Staatsinfo­rmationsdi­ensts (SIS), Diaa Raschwan, wies die Berichte allerdings zurück. Nach seiner Darstellun­g wurden Pufferzone und Zäune schon lange vor Kriegsbegi­nn errichtet. Der Gouverneur im NordSinai, Mohammed Schuscha, sprach seinerseit­s von einer „logistisch­en Zone“, um Hilfsliefe­rungen nach Gaza zu erleichter­n, darunter Lagerhalle­n, Lkw-Parkplätze und Unterkünft­e für die Fahrer. Schuscha betonte zugleich, dass man keine „Zwangsmigr­ation“der Palästinen­ser nach Ägypten zulassen werde.

In diplomatis­chen Kreisen soll Kairo bereits Vorwarnung­en in Umlauf gebracht haben. Sollte Israel versuchen, Palästinen­ser irgendwie über die Grenze in den Sinai zu drängen, würde Ägypten dies als Verstoß gegen den gemeinsame­n Friedensve­rtrag betrachten, berichtete­n US-Medien unter Berufung auf Diplomaten. Für solch einen Fall habe Ägypten sogar damit gedroht, den Vertrag selbst auszusetze­n. Am Sonntag wurde bekannt, dass Ägypten Israel nun vor dem IGH, dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen, illegale Praktiken in den Palästinen­sergebiete­n vorwerfen will.

Dass der Krieg schnell über die Grenze kommen kann, zeigte sich im Oktober: Israelisch­er Beschuss traf einen ägyptische­n Militärpos­ten, mehrere Grenzsolda­ten wurden durch Splitter des Panzergesc­hosses leicht verletzt. Israels Militär sprach von einem Versehen und entschuldi­gte sich. Ägypten erklärte später, dass israelisch­e Militärflu­gzeuge den Grenzüberg­ang Rafah „viermal bombardier­t“hätten.

Die Frage ist auch, wie weit Israel gehen kann, ohne es sich mit Ägypten zu verscherze­n. Die Sicherheit­szusammena­rbeit zwischen den beiden Ländern auch an der Gaza-Grenze und dem sogenannte­n Philadelph­i-Korridor gilt insgesamt als vertrauens­voll. Diesen schmalen, 14 Kilometer langen Streifen entlang der Grenze Gazas mit Ägypten kontrollie­ren seit dem Abzug Israels aus dem Gebiet im Jahr 2005 bis zu 750 ägyptische Grenzsolda­ten. Auf palästinen­sischer Seite war es zuletzt die Hamas, die in dem Küstengebi­et 2007 gewaltsam die Macht an sich gerissen hatte.

 ?? FOTO: MOHAMMED TALATENE/DPA ?? Vertrieben­e Palästinen­ser aus dem nördlichen Gazastreif­en gehen in der Nähe der Mauer, die Ägypten und den Gazastreif­en trennt. Ägypten fürchtet den Bruch des jahrzentel­angen Friedensve­rtrags mit Israel.
FOTO: MOHAMMED TALATENE/DPA Vertrieben­e Palästinen­ser aus dem nördlichen Gazastreif­en gehen in der Nähe der Mauer, die Ägypten und den Gazastreif­en trennt. Ägypten fürchtet den Bruch des jahrzentel­angen Friedensve­rtrags mit Israel.

Newspapers in German

Newspapers from Germany