Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Falsche Atteste statt Impfung
Nicht alle Eltern lassen ihre Kinder gegen Masern impfen – Was Lindauer Arzt zu Gefälligkeitsattesten sagt
(rst) - 13 bestätigte Fälle vergangene Woche in Vorarlberg: Seit Beginn des Jahres gibt es europaweit wieder mehr Menschen, die an Masern erkranken. Allerdings lassen nicht alle Eltern ihre Kinder gegen das Virus impfen – trotz Pflicht. Um diese zu umgehen, landen auch beim Lindauer Gesundheitsamt gefälschte Atteste oder solche, die Ärzte aus Gefälligkeit ausstellen. Das hat Folgen – und kann vor das Gericht führen.
Weil sie ihre drei Kinder nicht gegen Masern impfen lassen wollten, landete ein Ehepaar im März 2023 vor dem Lindauer Amtsgericht. Dem Paar kam die Impfpflicht in die Quere. Für die Kinder, die Schule und Kindergarten besuchen, stellte ein Kinder- und Jugendarzt aus der Region Stuttgart eine Bescheinigung für Impfunfähigkeit aus.
Die falschen Atteste legte die Frau dem Landratsamt, Schule und Kindergarten vor. Dann flog der Betrug auf.
Beim Lindauer Landratsamt ist das kein Einzelfall. Immer mal wieder werden dort Atteste vorgelegt, die „offensichtlich ohne ärztliche Untersuchung ausgestellt werden“, schreibt Pressesprecherin Sibylle Ehreiser. Teilweise handle es sich um gefälschte Vordrucke aus dem Internet, teilweise um sogenannte Gefälligkeitsatteste von Ärzten. „Gefälschte Atteste werden natürlich nicht akzeptiert.“
Auch bei dem Gerichtsfall stellte sich heraus: Der Arzt, der das Attest ausgestellt hat, hatte die Kinder nie gesehen. Er habe das nicht für notwendig empfunden, so die Eltern. Sie berichteten, sie seien über eine Zeitschrift auf den Arzt aufmerksam geworden.
Sogenannte Gefälligkeitsatteste erkenne man daran, dass sie formelhaft vorformuliert sind, so
Ehreiser. Die Atteste könnten nicht auf Plausibilität überprüft werden. Meistens sei keine Erkrankung angegeben, die Grund dafür sein soll, dass nicht geimpft werden konnte. „Das ist aber erforderlich.“Die Ärzte seien in Kreisen von Impfgegnern als deren Unterstützer bekannt, schreibt Ehreiser.
Auch der Lindauer Kinderarzt Harald Tegtmeyer-Metzdorf hat erlebt, dass „Impfunwillige Ängste haben und dann andere Praxen aufsuchen, die diese Ängste teilen“. Er erinnert an einen Fall in Nordrhein-Westfalen vor einigen Jahren, als ein Elfjähriger im Wartezimmer Säuglinge mit Masern ansteckte. Der Junge war nicht geimpft. Zwei der Säuglinge starben später als Kinder an den Folgen der Krankheit.
„Ich würde nicht wollen, dass das bei mir passiert“, sagt Tegtmeyer-Metzdorf. Wer sich bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres gegen die Impfung entscheidet, wechsle die Praxis.
Bei dem Ehepaar vor dem Lindauer
Amtsgericht stellte sich heraus, dass es Impfungen kritisch sehe. Die Kinder hätten Allergien. Angesichts dessen wollte das Ehepaar ihnen keine Impfungen „zumuten“.
Laut der Erfahrung des Kinderarztes Tegtmeyer-Metzdorf gebe es zum einen dogmatische Impfgegner, aber auch einfach ängstliche Menschen. Er habe zum Beispiel einmal länger mit einem Vater gesprochen, der davon ausging, dass die Erkrankung seines Kindes von einer Impfung komme. Am Ende des Gesprächs habe der Vater seine Meinung geändert.
Auch wenn der Kinderarzt die Masernimpfung für sehr wichtig hält – ein Verfechter der Impfpf licht ist Tegtmeyer-Metzdorf nicht. Die Impfpf licht besagt: Ab dem vollendeten ersten Lebensjahr müssen Kinder beim Eintritt in den Kindergarten, die Kindertagespf lege oder in die Schule Masern-Impfungen vorweisen. Genauso wie Lehrer, Erzieher, medizinische Personal oder Gef lüchtete. Durch die Pflicht fühle sich eine bestimmte Gruppe gedrängt, zu impfen, gibt der Lindauer Kinderarzt zu bedenken. Diejenigen, die skeptisch sind und Schwierigkeiten mit dem Impfen haben, erreiche man so nicht. „Sondern über Gespräche“, sagt der Kinderarzt, der seit der Coronapandemie eine steigende Impfskepsis wahrnimmt.
Sigrid Lochmann, Vorsitzende der Ärztegemeinschaft Agil in Lindau, spricht von dem Impfparadoxon. „Man sieht die Krankheit nicht“, sagt sie. Gefährliche Folgen seien aber Hirnhautentzündung, die bis zum Tod führen können. Viele hätten das vergessen. Denn: „Die Krankheit, gegen die man impft, schwindet.“
Durch die Impfungen gebe es mittlerweile eine Herdenimmunität, von der Ungeimpfte profitieren. Im Landkreis Lindau gibt es seit dem Jahr 2019 keine laborbestätigten Fälle von Masern. In Europa und auch bundesweit steigen sie seit Jahresbeginn aber an.
So auch in Österreich. Vergangene Woche gab es 13 bestätigte Masern-Fälle in Vorarlberg. „Aussagen, ob und inwiefern sich bestätigte Masernfälle in Vorarlberg auf den Landkreis Lindau auswirken können, wären rein spekulativ“, schreibt Ehreiser, Sprecherin des Landratsamts.
Aber nicht geimpfte Menschen seien immer einem höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt.