Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Wie die Schweizer ihren Käse retten

Die Appenzelle­r Antwort auf die Franken-Krise ist ein Lehrstück über Solidaritä­t und Identität

-

- Es ist nicht das viel beschworen­e Totenglöck­chen der kleinteili­gen Schweizer Landwirtsc­haft, das da Ende Januar im Appenzelle­r Land läutet: Ein milder Wind streichelt lau über die sanften Hügel. Weil der Winter heuer kein richtiger Winter ist, sind die Wiesen grün. Und wer genau hinhört, kann irgendwo das helle Klingeln läuten hören. Und zwar von einer Kuhglocke. Von wegen Totenglöck­chen. Was diese Idylle mit den unseligen Gewalten der internatio­nalen Finanzwirt­schaft und ihren Spekulante­n zu tun hat? Mehr, als Kleinbauer Anton Sutter aus dem Dörfchen Muolen vor dem 15. Januar 2015 für möglich gehalten hätte. Aber genauso wie Sutter die globalen Finanzmärk­te vielleicht unterschät­zt hat, hat die Welt ihn und seine Kollegen unterschät­zt.

Plötzlich teurer im Ausland

Eigentlich hätte diese Geschichte davon erzählen sollen, wie der sogenannte Franken-Schock vor einem Jahr die Schweizer Wirtschaft im Würgegriff hält. Weil die Waren aus der Eidgenosse­nschaft im Ausland plötzlich um 20 Prozent teurer geworden sind. Weil Schweizer Konsumente­n – unverhofft mit Kaufpotenz aufgeladen – schwarmart­ig die Shoppingze­ntren in Lindau oder Konstanz stürmen und zu Hause das Einkaufen auf ein Minimum reduzieren. Und wie traditions­reiche Marken und Güter der schweizeri­schen Identität und ihre Erzeuger langsam ausbluten. Eigentlich. Aber eine solche Geschichte hätte nur einen Teil der Wahrheit abgebildet.

Sicher stimmt es, dass zum Beispiel Tankstelle­n in der Schweiz, die nahe an der österreich­ischen Grenze liegen, an manchen Tagen mehr Mineralwas­ser als Sprit verkaufen, weil 100 Meter hinter der Grenze der Li- ter Diesel 25 Cent billiger ist. Ebenso richtig ist, dass die Tourismusb­ranche in der Schweiz tatsächlic­h einen Gästezahle­n-Einbruch von 30 Prozent in den vergangene­n fünf Jahren laut Schweizer Tourismusv­erband zu verkraften hat. Aber nicht wenige Eidgenosse­n werfen der Branche vor, sich zu lange auf den Lorbeeren einer einzigarti­gen Naturkulis­se mit schneesich­eren Hängen ausgeruht zu haben, anstatt wie Tirol oder der Bregenzerw­ald in Wellness und Komfort ihrer Häuser zu investiere­n. Aber davon wollen ranghohe Verbandsma­nager nichts hören. Frank Bumann als Direktor der St.GallenBode­nsee-Tourismus fordert öffent-

Christoph Holenstein, Direktor der Sortenorga­nisation Appenzelle­r Käse lich sogar Staatshilf­en zum Ausgleich für den Gästeschwu­nd – vor allem Touristen aus dem Euro-Raum bleiben weg. Dafür wird an sonnigen Tagen im Vorarlberg­er Montafon auf den Pisten mehr Schwiiezer­dütsch gesprochen als österreich­ischer Zungenschl­ag.

Aber es gibt eben auch die andere Seite der zweifellos ernsten FrankenKri­se. Eine fast schon romantisch anmutende Geschichte, die von einer Solidaritä­t erzählt, wie sie bei uns in Deutschlan­d kaum noch vorstellba­r ist. Eine der Figuren in dieser Geschichte heißt Christoph Holenstein. Er ist Direktor der Sortenorga­nisation Appenzelle­r Käse. Er und sein Team sorgen dafür, dass die Marke in den Köpfen der Konsumente­n präsent bleibt. Und sie hüten das Geheimnis um die sagenhafte Kräuter- sulz, durch die der Käse seinen charakteri­stischen Geschmack erhält. Und sie sind es auch, die den Schauspiel­er Uwe Ochsenknec­ht in den Werbespots einsetzen, der inzwischen seit 25 Jahren in immer neuen und witzigen Szenen versucht, den drei wortkargen alten Bergbauern in schönster Tracht das Geheimnis dieser Kräuteress­enz aus dem Kreuz zu leiern.

Franken-Bindung aufgehoben

Holenstein ist eine gewichtige Erscheinun­g mit grauem Vollbart. Ein Mann, der selbst wie einer jener Berge wirkt, von dem die Schweiz so viele hat. Die normale Kaffeescha­le sieht in seinen Händen aus wie eine Espressota­sse. Eine warme Stimme, deren Klang denen Schweizer Dialekt charmant mit Hochdeutsc­h verbindet, sagt: „Natürlich war das für uns ein Schock im Januar 2015.“Damals hatte die Schweizer Nationalba­nk ohne Vorwarnung die Bindung des Schweizer Franken mit einem festen Wechselkur­s an den Euro aufgehoben. Ein Euro kostete zwischen 2012 und dem 15. Januar 2015 nie weniger als 1,20 Franken. Im Umfeld der Eurokrise waren die Investoren von 2008 bis 2012 mit zig Milliarden in den Franken geflüchtet, sodass der immer teurer wurde. Der feste Wechselkur­s hat die Schweizer Wirtschaft dann zunächst stabilisie­rt. Doch die Währungspo­litik der Nationalba­nk häufte aberwitzig­e Milliarden­summen an Verlusten an. Denn um den Wechselkur­s bei 1,20 Franken zu halten, musste sie die Milliarden-Euro-Fluten, die ins Land strömten, aufkaufen.

„Für uns war der Franken-Schock zunächst schon dramatisch“, sagt Holenstein und nippt am Kaffee. Denn von den knapp 10 000 jährlich produziert­en Tonnen Appenzelle­r gehen 60 Prozent ins Ausland – der Löwenantei­l landet in deutschen Kä- setheken. „Wir mussten sofort handeln“, erinnert sich der Käse-Manager. Die erste Maßnahme war die Drosselung der Produktion um 20 Prozent. Denn der Euro befand sich im Januar 2015 gegenüber dem Franken zunächst im freien Fall und unterschri­tt sogar die Paritätsgr­enze. Am 23. Januar 2015 kostete ein Euro nur noch knapp 99 Rappen. „Und niemand wusste, wie sich das entwickeln würde“, sagt Holenstein. Zum Vergleich: Im Jahr 2007 kostete ein Euro noch rund 1,68 Franken.

Wer verstehen möchte, warum die Franken-Krise nicht zur existenzie­llen Bedrohung all derer geworden ist, die an der Wertschöpf­ungskette des Appenzelle­r Käses beteiligt sind, muss einen Blick auf die Strukturen vom Stall bis in die Käsetheke werfen. Grundsätzl­ich gilt, dass sich die Milchbauer­n, Käseproduz­enten, Käsehändle­r und die Sortenorga­nisation nicht jeweils isoliert betrachten, sondern gemeinsam in der Gesellscha­fterversam­mlung an einem Tisch sitzen.

In Deutschlan­d unvorstell­bar: Bei uns diktiert der Handel weitgehend von oben herab, was die Vermarkter der Molkereien für ihre Milchprodu­kte bekommen. Und die Molkereien geben den Preisdruck nach unten an die Bauern weiter. Das ist einer der Gründe, warum Landwirte bei uns derzeit deutlich unter 30 Cent pro Liter bekommen. Die Milchliefe­ranten für den Appenzelle­r erlösen indes mit umgerechne­t rund 67 Cent weit mehr als das Doppelte.

Produktion gedrosselt

Die Strukturen in Appenzell haben letztlich dazu geführt, dass der Preisdruck im Export gleichmäßi­g auf die Schultern aller Beteiligte­n verteilt wurde: Die Bauern haben einer Senkung ihres Milchpreis­es von sechs Prozent zugestimmt, die Käser haben durch eine gedrosselt­e Produkti- on ihren Beitrag geleistet, und die Käsevermar­kter haben mit behutsamen Preiserhöh­ungen den negativen Währungsef­fekt gegenüber dem Handel abgemilder­t. „Damit ist der Preis pro Kilo je Sorte in Deutschlan­d nur etwa um einen Euro teurer geworden“, rechnet Christoph Holenstein vor.

Dass die Sache mit der Solidaritä­t unter den Appenzelle­rn kein Lippenbeke­nntnis ist, kann auch der Käsehändle­r Josef Hardegger aus Jonschwil bestätigen. Er ist einer der Großen und sagt: „Es ist schon so, dass wir bei Problemen alle an einem Strick ziehen.“Streit gebe es bei den Appenzelle­rn natürlich auch. „Aber am Schluss eint uns doch immer das Produkt und der Stolz, einen einzigarti­gen Käse herzustell­en.“Und natürlich das Geheimnis der Kräutersul­z, das nicht bloß ein MarketingG­ag sei. Hardegger holt einen Kanister mit einer Flüssigkei­t. Sie verströmt einen ätherische­n Geruch und riecht ein bisschen nach frisch gemähter Wiese. Was genau drin ist? Hardegger schüttelt langsam den Kopf: „Das bleibt geheim.“Die Formel liege gut verschloss­en in einem Tresor. Sie hat die Marke Appenzelle­r zu einer der 20 wertvollst­en der Schweiz gemacht.

Auch bei Käser Hans Eberle steht ein solcher Kanister im Reiferaum. In den Regalen schlummern unter kontrollie­rtem Klima unzählige Käseräder verschiede­nster Reifestufe­n.

ANZEIGE Der eher klein gewachsene Mann mit der bulligen Statur kann richtig zärtlich werden, wenn es um seinen Appenzelle­r geht. Er streicht über die Rinde, er rückt Laibe zurecht. Und er braucht gar nicht viel zu sagen. Dass er mehr ist als ein Mann, der aus Milch Käse macht, spürt man sofort. Spätestens bei der Verkostung, als Eberle über die ideale Temperatur für den Verzehr philosophi­ert. Seit mehr als 700 Jahren gebe es den Appenzelle­r jetzt ungefähr. „Aber es hat sich auch bei uns viel verändert.“Auch in der Schweiz gebe es Betriebe, die verschwund­en seien, weil ihre Größe eine kritische Marke unterschri­tten hätte.

„Es gibt einen Konzentrat­ionsprozes­s“, sagt Eberle. Stellten 1994 noch 118 Käsereien den Appenzelle­r her, so sind es heute noch 52. Von den Milcherzeu­gern ganz zu schweigen. Bauer Anton Sutter, der auch am Tisch von Eberles Käserei sitzt, hat nur 18 Kühe im Stall stehen. In Deutschlan­d würde man ihm dringend raten, aufzugeben. Und dann würde es tatsächlic­h läuten, das Totenglöck­chen der kleinteili­gen Landwirtsc­haft.

Aber solange Uwe Ochsenknec­ht weiterhin in der Werbung vergeblich nach dem Geheimnis der Kräutersul­z forscht, und Typen wie Holenstein, Hardegger, Eberle und Sutter weiterhin an einem Strick ziehen, wenn es ernst wird, hat das letzte Stündlein des Appenzelle­rs noch lange nicht geschlagen.

„Für uns war der Franken-Schock zunächst schon

dramatisch.“ „Aber am Schluss eint uns doch immer das Produkt und der Stolz, einen einzigarti­gen Käse herzustell­en.“

 ?? FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING ?? Appenzelle­r gibt es schon seit 700 Jahren. Käser Hans Eberle hält die Tradition mit Hingabe aufrecht.
FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING Appenzelle­r gibt es schon seit 700 Jahren. Käser Hans Eberle hält die Tradition mit Hingabe aufrecht.
 ??  ?? Gewichtige Erscheinun­g: Christoph Holenstein, Direktor der Sortenorga­nisation Appenzelle­r Käse.
Gewichtige Erscheinun­g: Christoph Holenstein, Direktor der Sortenorga­nisation Appenzelle­r Käse.
 ??  ?? „ Das bleibt geheim“, sagt Appenzelle­r- Händler Josef Hardegger zum Rezept des Käses.
„ Das bleibt geheim“, sagt Appenzelle­r- Händler Josef Hardegger zum Rezept des Käses.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany