Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Im Himmel des Rock
Chuck Berry ist im Alter von 90 Jahren gestorben – Vorbild für viele Musiker
- „Zieh Leine, Beethoven, und erzähle Tschaikowsky diese Neuigkeit!“Eine seltsame Zeile? Das Intro eines der bekanntesten Stücke der Rockgeschichte, das im Originaltext „Roll over Beethoven“heißt und als Musikdenkmal nur noch mit „Satisfaction“gleichzusetzen ist. Geschrieben und intoniert hat es Charles Edward Anderson Berry, der unter seinem Kurznamen Chuck zur Ikone geworden ist und am Wochenende im seligen Alter von 90 Lenzen für immer die Augen schloss. Das ist nicht vielen Rock-Größen vergönnt und lässt auf ein ebenso sanftes wie friedliches Leben schließen. Markenzeichen „Duck Walk“Chuck Berry war weder sanft noch friedlich. Er war nach Meinung des brillanten Rockhistorikers Nik Cohn „möglicherweise der beste aller Rock ’n’ Roller“, was wohl kaum jemand bezweifeln möchte. Aber er war auch – wie so viele Große – ein ziemlich gewöhnungsbedürftiger Typ. Er war sowohl musikalisch wie auch von den Texten her genial – und er war geizig, kratzbürstig, phasenweise unausstehlich und scherte sich im Zweifelsfall einen Dreck um sein Publikum, das er im Zweifelsfall auch schon mal nach 50 Minuten im Stich ließ und sich von der Bühne verzog. Sein „Duck Walk“, mit dem er augenzwinkernd über die Bühne schlurfte, war bald ebenso sprichwörtlich wie sein ausgeprägter Erwerbssinn oder seine schlechte Laune. Chuck Berry hat die ganzen großen Rock ’n’ Roller beeinflusst. Dass er dem Rolling-Stones-Gitarristen Keith Richard einst überaus hochmütig wie einen Saiten-Lehrling geschurigelt hat, darf man ihm schon beinahe wieder aufs Habenkonto gutschreiben. Das traut sich nicht jeder.
Chuck Berry hat sich zeit seines langen Lebens immer ziemlich viel getraut. Er verbrachte 1961 eineinhalb Jahre im Gefängnis, weil er „eine minderjährige Person wegen unmoralischer Beweggründe über eine Staatsgrenze innerhalb der USA transportiert hatte“. Er war Rock ’n’ Roller. Und dass dieser englische Wortbegriff einstens für eine Leibesübung stand, die man in den 1950erJahren gemeinhin nur im Schlafzimmer oder auf dem Rücksitz von Papas Limousine ausübte, hat er, wie so viele seiner Rock-Kollegen, nicht nur intellektuell interpretiert. Er setzte Maßstäbe. Er wurde geliebt. Er wurde verehrt. Aber er trat nur auf, wenn ihm vor Konzertbeginn seine Gage ausgezahlt wurde. Berry konterte alle Sentimentalität bezüglich seiner Gitarre, zu der viele seiner Rock-Kollegen ein nahezu erotisches Verhältnis pflegen, und bügelte diesbezügliche Fragen prinzipiell eiskalt, quasi on the rocks, ab: „Das ist ein Arbeitsinstrument für mich. Ich kaufe mir jedes Jahr eine neue, weil ich das von der Steuer absetzen kann.“
Gefühlsduseligkeit war sein Ding nicht, auch wenn er durchaus einfühlsame Texte schrieb. „Maybelline“ beispielsweise handelt von einem Vater, der nur noch einmal mit seiner sechsjährigen Tochter am Telefon sprechen will, bevor alles endgültig in Scherben fällt. Und „Johnny B. Goode“ist nichts anderes als die musikalisch umgesetzte Verwirklichung des Wunsches seiner Mutter, dass ihr Sohn richtig gut werden möge.
Ist er. Mehr als das. Er ist eine absolute Marke geworden, vor der die ganzen Götter im Rock-Olymp wie John Lennon und Mick Jagger alle nicht vorhandenen Hüte gezogen haben. Die ganzen Lobpreisungen bezüglich seines Hinscheidens von Otto Waalkes (peinlich) bis hin zu Hillary und Bill Clinton (oberpeinlich) muss er Gott sei Dank nicht mehr mitkriegen. Er hätte es sich wahrscheinlich verbeten oder Geld dafür verlangt, dass er sich so etwas anhören muss. Und die weihevollen Lobpreisungen für seine 69-jährige Ehe mit Thermetta Berry kann man getrost auch komplett im Orkus des verlogenen Vergessens versenken.
„Sweet Little Sixteen“und „Roll over Beethoven“wird keiner aus dem Gedächtnis verlieren und aus dem Herzen auch nicht. Der Filmregisseur Robert Zemeckis lässt in seinem Zeitreisefilm „Zurück in die Zukunft“seinen Helden Marty McFly auf dem Schulabschlussball ein unverstandenes, weil unzeitgemäßes „Johnny B. Goode“spielen. Ein Gruß aus der Vergangenheit an die Zukunft, in der die Stücke von Charles Edward Anderson Berry sicherlich zeitlos bleiben werden.